Nach einer Antwort auf die Frage, wie der gescheiterte Putschversuch in der Türkei das Leben Tausender Zivilisten zerstörte, sucht man bei notorischen Regierungsfeinden - oder sollen wir sagen, Türkei-Feinden - vergeblich. Es wird sogar unterschwellig entgegnet, dass diese Zivilisten, Polizisten und Sondereinsatzkräfte selbst dafür verantwortlich sind, dass sie nicht mehr leben. Kann man solche Antworten und Argumente noch ernst nehmen?
Tausende Zivilisten, darunter welche mit Takke, andere mit Turbans oder Rastafrisur, wiederum andere mit Schleier, ohne Schleier, jung und alt, strömten in den Abendstunden des 15. Juni 2016 auf die Straßen, um den anrollenden Putschversuch zu verhindern. Es waren apolitische, konservative, linke, nationale, religiöse, kemalistische, aber auch anti-kemalistische wie atheistische Menschen dabei. Die ersten Massen, die auf die Straßen strömten, wussten zu der Zeit nicht einmal, ob der türkische Staatspräsident noch lebt, aus dem Land geflohen ist oder noch an das Volk eine Rede halten wird, um die Lage zu erklären. Es gab keine Informationen vom Generalstab, keine von der staatlichen TV- und Rundfunkanstalt.
Atatürk und seine Marathonrede
Wir müssen uns eingestehen, dass diese erste zivile Verhinderungswelle nicht unbedingt Recep Tayyip Erdoğan galt, sondern vielmehr dem Vaterland selbst. Das Land, das uns Atatürk vermacht hatte. Vielleicht ist es heute Zeit - wie einst Atatürk nach vier Jahren der Republikgründung die Marathonrede (Nutuk) im Nationalparlament vorlas - Klartext zu reden und auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die uns noch bevorstehen. Atatürks Rede vor dem Nationalparlament war eine Warnung an die zukünftige Generationen, eine Rede an die Jugend, die die Zukunft des Landes in den Händen halten sollten. Es sprach dabei etwa nicht von Demokratie oder Menschenrechten, sondern vom Vaterland, das ja die schützende Hülle dieser Werte- und Moralvorstellungen ist. Ohne ein Vaterland, so Atatürk, gebe es keine Kultur, keine Moral, keine Wertewelt, in der die Türken überleben könnte.
Gegenwärtig trifft man auf Gestalten, die die Mär von einer fingierten Putsch-Show verbreiten. Es gibt auch Gestalten, die den Militärkadetten nachtrauern oder deren Gerichtsverfahren monieren. Des Weiteren gibt es Gestalten, die vorgeben, die Demokratie hänge vorrangig von der Rechtsstaatlichkeit ab, die man gegen Gegner des Systems anwende. Im Klartext: Wenn die türkische Justiz rechtsstaatlich handeln würde, bliebe man innerhalb des Demokratieverständnisses - oder eben nicht.
So einfach ist das aber nicht, sondern weitaus komplexer. Die FETÖ hatte sich während der letzten 3 oder 4 Dekaden zu einem Parallelstaat gemausert, die ihresgleichen sucht. Die Gülen-Bewegung wendete von Anbeginn die Taqīya an. Keine türkische Partei, die im Nationalparlament während dieser Zeitspanne je vertreten war, konnte sich dieser Sekte entziehen. Alle, ausnahmslos alle waren irgendwie mit Fethullah Gülen verbandelt, wollten mindestens von seiner Anwesenheit profitieren oder gaben sich gar als Leumund aus, verhalfen Fethullah Gülen sogar geschmeidig den Gang ins Exil, bevor die Justiz überhaupt zugreifen konnte.
Schuldfrage
Angesichts dieser Verflechtung aller Alt-, Splitter- oder Neuparteien während der Ära von Fethullah Gülen in der Türkei, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass diese „Jugend“ schon zu Beginn versagt hatte. Kann man dann von einer alleinigen Schuld der Ära der Regierungszeit Recep Tayyip Erdoğan sprechen? Und wenn dem so wäre, weshalb ist der derzeitige Erdoğan dann weiterhin eifrig dabei, die FETÖ mit den Wurzeln auszureißen? Selbstverständlich könnte man jetzt behaupten, Erdoğan würde damit nur versuchen, seine eigene Haut retten. Aber das ist zu kurz gegriffen und ist auch kein Vorwand, den Kampf gegen Systemfeinde wie der FETÖ zu pausieren oder dafür Nebenschauplätze zu eröffnen.
Das erklärt auch nicht, weshalb Erdoğan spätestens nach 2013 offen die Gülen-Bewegung unter Kontrolle bringen wollte, während die Opposition ihm bei jedem Schritt geradezu geschlossen einen Fuß nach dem anderen stellte, und heute teilweise immer noch stellt. Spätestens nach dem 15. Juni 2016 hätte sich die Opposition doch mit der Gülen-Bewegung bzw. der FETÖ beschäftigen müssen, statt Erdoğan politisch zu verfolgen. Von Eintracht im Kampf gegen die FETÖ kann also keine Rede sein!
Es versteht sich von selbst, dass die Opposition auch Teile der Gesellschaft abbildet und diese Gedankengänge dort ebenfalls verbreitet sind. So hat sich innerhalb der Gesellschaft die eine oder andere Mär etabliert und findet manch begeisterten Anhänger. Eine dieser Geschichten, die mir unentwegt vorgehalten wird, ist, weshalb man Militärkadetten verfolgt oder verhaftet und bis heute abzuurteilen versucht.
Zunächst einmal gibt es nicht nur Militärkadetten, die verfolgt werden, sondern auch Wehrpflichtige und insbesondere Unteroffiziere sowie Offiziere, die während des Putschversuchs die Befehlsgewalt ausgeübt haben. Es gibt auch Militärkadetten, Wehrpflichtige, Unteroffiziere sowie Offiziere die nicht mehr verfolgt werden, weil sie schlichtweg keine Kontakte zur Gülen-Bewegung pflegten, nicht aus den Kasernen marschierten oder sich als Kronzeugen stellten und damit Clean sind.
Wer die zahlreichen Audio- und Videoaufnahmen der vielen TV-Sender oder Zivilisten zu Gemüte gezogen hat, weis, dass der Putschversuch insbesondere von den Putschisten in den Kampfjets, den Kampfhubschraubern, dem Bodenpersonal oder der Sperrspitze der Panzerkonvois mit vollem Elan und erschreckendem Kalkül durchgezogen wurde.
Unter den Wehrpflichtigen gab es manche, die ihre Waffen niederlegten, als sie irgendwie spitz bekamen, dass die Waffen gegen das eigene Volk gerichtet wird. Es gab Wehrpflichtige, die erst unter dem Andrang der zivilen Menschenmassen nachgaben und sich den Polizisten stellten. Es gab aber auch Wehrpflichtige, die die Gewehre, Panzer oder Truppentransporter gegen Zivilisten oder Polizisten benutzten. Hätten Letztere eigentlich auch gegen die eigene Familie geschossen, wären diese vor sie getreten? Das ist die entscheidende Frage!
Lagerdenken, Zwiespalt, Volkskrankheit
Die FETÖ hatte es also geschafft, dass Letztere, also der Sohn, der Bruder, der Schwager oder Enkelkind die Waffe gegen einen erhebt, zielt und abdrückt. Für derartig abscheuliches gibt es schlicht kein Pardon. Die FETÖ suchte sich dabei nicht nur junge oder alte, erfahrene oder unerfahrene Werkzeuge, sondern viele loyale Werkzeuge, die es mit der Ordnung aufnehmen konnten oder wollten. Neben bereitwilligen Unteroffizieren oder Offizieren, die sich mit dem Putschversuch womöglich einen Karrieresprung erhofften, gab es auch Wehrpflichtige, die man von der Picke aus dafür ausgebildet hatte, sprich jene die den zukünftigen bewaffneten Kern dieser Sekte bilden sollte.
Und dann gab es noch die Kaderschmiede, also die Militärakademien, die fest in der Hand der Sekte war. Es glaubt doch kein Mensch, dass die Sekte für den Umsturzplan ausschließlich nicht-loyale Kadetten nahm und an die vorderste Front schickte. Und wenn dem so wäre, auch sie wären im Kern Mittäter. Glaubt einer ernsthaft, dass das irgendetwas daran geändert hätte, dass diese Jungs im Alter zwischen 18 und 23 die Waffe nicht benutzen?
Selbstverständlich gab es das, dass der Kadett dem Befehl nicht Folge leistete. Aber dieser eine einzige Fall, dieser einzige Kadett innerhalb des gesamten Putschisten-Aufgebots, der auf der Bosporus-Brücke den Befehl seines Zugführers nicht befolgte, wurde sofort und auf der Stelle niedergestreckt.
Er ist und bleibt der einzige im gesamten Zug, im gesamten Putschisten-Aufgebot, der wegen Befehlsverweigerung ohne Widerworte des Zugführers auf der Stelle, ohne schriftliche Befehlsanordnung, deren Absegnung durch einen weiteren hochrangigen Offizier oder einem Militärgericht erschossen wurde. Diesem gebührt Respekt, sonst niemandem.
Spätestens jetzt hätten alle anderen Kadetten sich die Frage stellen müssen, was sie auf der Brücke eigentlich zu suchen haben. Denn, das ganze war bereits eine eklatante Verletzung der ehrvollen, traditionsreichen Militärregeln, und die sofortige Erschießung eines Mitkadetten erst Recht. Ob nun im Frieden oder im Krieg, ist dabei irrelevant.
Die Militärkadetten des Zuges, die auf der Bosporus-Brücke Stellung bezogen hatten, schossen aber trotz diesem Vorfall in den eigenen Reihen über die gesamte Nacht hinweg auf Zivilisten, Polizisten und Sondereinsatzkräfte der Polizei. Sie verballerten beinahe den gesamten Munitionsvorrat, während ihr Kamerad der sich geweigert hatte, neben ihnen mit einem Einschussloch am Kopf am Boden lag.
Und dann liest man in manchen Beiträgen in sozialen Medien, wie herzlos doch die Militärkadetten auf der Brücke vom "Mob" behandelt worden seien, nach dem sie sich in den Morgenstunden ergeben hätten. Oder wie dieser Mob die Jungs mit Gürteln ausgepeitscht hätten oder den einen über die Brücke geworfen, dem anderen angeblich die Kehle aufgeschnitten hätten.
Dieser "Mob" wurde zuvor - und das wird geflissentlich ausgelassen - mehrere Stunden mit NATO-Patronen und Granaten beschossen. Viele starben in dem Kugelhagel, weil sie unbewaffnet und mit friedlichen Absichten an die Sperre auf der Brücke herangetreten waren. Ob die Beitragsersteller in sozialen Medien sich dessen bewusst sind, was sie da eigentlich verzapfen? Oder sind es eher Provokateure, gar Gülenisten, die diese Mär in die Welt gesetzt haben?
Zum Sechs-Jährigen-Jubiläum
Es kommt noch schlimmer. Dafür findet man indessen zum "Sechs-Jährigen-Jubiläum" die Wiederholung vom Propagandamärchen eines angeblich selbst inszenierten Putsches, mit viel Mitleidsflair für bewaffnete Militärkadetten, die nach dem Scheitern des Putschversuches am Ende die drei Affen spielen und nichts gehört, nichts gesagt und nichts gesehen haben wollen. Eine systematische Propaganda aus der Feder der FETÖ.
Hallo, gehts noch? Ich habe doch gerade erklärt, was der eine Zug von Bussen und Mannschaftstransportern mit Militärkadetten in Begleitung von Kampfpanzern auf der Bosporus-Brücke über die Nacht des 15. Juni bis in die Morgenstunden des 16. Juni hinweg angerichtet hatte. Und was wohl passiert wäre, wenn der andere Zug, der von Yalova nach Istanbul entsandt wurde, am Ziel angekommen wäre? Hätten die am Ziel mit dem Volk Murmeln gespielt und gemeinsam Schwarztee geschlürft?
Diese ehemaligen Kadetten erzählen ihre in sich unschlüssige Version aus dem Exil heraus, fern der türkischen Justiz, fern des eigenen Volkes, was sie auch noch geflissentlich unterschlagen. Das Volk hatte diesen sechs eigentlich die Unschuld auf der Straße in Istanbul geradezu aufgezwungen. Das heißt aber nicht, dass sie deshalb von der Schuld befreit sind.
Deren einziger Rettungsanker war und ist das Volk, dass die Straßen massivst blockierte, weshalb dieser Zug von einem Bus-Konvoi nicht weiterkommen konnte. Den Rettungsanker warf das Volk diesem Zug zu und dieser Anker sitzt nun im Sitzfleisch dieser Militärkadetten und deren Sympathisanten. Und das ist gut so.
Wäre dieser Zug nämlich am Ziel angelangt, hätten wir ganz gewiss eine weitere Front von schwer bewaffneten Militärkadetten, die jeden Zivilisten oder Polizisten niedergeschossen hätten, das sich der eigenen Linie nähert - so doch geschehen auf der Bosporus-Brücke kurz vor Mitternacht des 15. Juni.
Mediale Begleitung des "Blauen" Busses
Wenn nun hiesige Medien wie die Frankfurter Rundschau FR in Person eines Erkan Pehlivan oder die Gülen-nahe DTJ-Online dieses Thema aufgreifen, dann doch nur, um diesen Exil-Ex-Kadetten einen Persilschein auszustellen und den türkischen Staat zu beschuldigen. Wenn diese Meldungen nur einen winzigen Bruchteil der zivilen Opfer thematisieren würden, würde man ja vielleicht versuchen, solche Schilderungen als Berichte zu betrachten, die der Wahrheitsfindung dienen. Aber dem ist nicht so! Man findet absolut nichts, was es mit den zivilen Opfern auf sich hat, wie sie litten, wer sie niedergeschossen, überfahren oder ganz einfach getötet hat. Wen sie dabei hinterlassen haben, wer um sie trauert, dass ist überhaupt kein Thema. Hier liegt der Fokus gänzlich auf den "Opfern" auf der anderen Seite.
Die zivilen Opfer werden verschmäht, entwürdigt und gar als Parteipartisanen dargestellt. Sie werden als islamistische Monster dargestellt, als ein Volksteil, dass mit der Türkei nichts gemein hat, weil sie Nudeln als Wahlgeschenk annehmen oder schlicht keine gepflegte Wertekultur besitzen, um Demokratie zu leben. Die Schubladen sind zahlreich, in die man das bescheidene Volk entsprechend klassifiziert.
Das ist eine perfide Strategie der Gülen-Sekte, die das Volk über Jahre hinweg auseinander dividiert, sie gegeneinander aufgebracht hat. Und nun läuft gerade eine großangelegte globale Propagandamaschinerie der Gülen-Bewegung an, die ein professionelles Kurzvideo in 14 Sprachen veröffentlicht hat, in der sechs ehemalige Militärkadetten des Zuges auf der Autobahn zwischen Yalova und Istanbul zu Wort kommen, um sich und ihre Anhänger von der Schuld reinzuwaschen.
Wer jetzt noch von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten faselt, um den Putschversuch zu relativieren oder Schuldige in Unschuld zu wiegen, der hat den Schuss nicht gehört! Gerade diese Werte hat diese Sekte nicht nur über Jahrzehnte hinweg für ihre Zwecke missbraucht, sondern in dieser Zeit regelrecht das Land und das Volk vergewaltigt, um an die Macht zu kommen.
Genau darum hatte Atatürk wenige Jahre nach der Republiksgründung den Drang verspürt, über Stunden eine Marathonrede abzuhalten. Gerade weil er verspürte, dass die zahlreichen Aufstände, die Sticheleien der Ententemächte sowie die Feinde im Äußeren wie auch im Inneren dem Land keine Ruhe gönnen werden. Recht hatte er gehabt.