Orwell’sche Dystopie oder die neue Realität? In gerade mal einer Woche haben uns die westlichen Wertemaßstäbe wieder einmal vor Augen geführt, wie es um die Moral bestellt ist, wenn es um Palästina und Palästinenser geht.
Zum Beispiel die Schnappatmung der dauerempörten Mandatsträger der "Staatsräson" nach der Einlage der Linken-Abgeordneten Cansin Köktürk, die mit der Palästina-Fahne im Bundestag wedelt. Man muss nur die Gesichter, die offenen Münder sehen; geradezu irrational, beängstigend! Als hätten sie den Teufel persönlich gesehen.
Der Fahnenträger dieser Staatsräson, Friedrich Merz, kann sich glücklich schätzen, von Benjamin Netanjahu vor der UN zitiert zu werden. Sein "Drecksarbeit"-Narrativ hat es sogar in die Generalversammlung der UN geschafft hat.
Oder die Bilder von zwei palästinensischen Geschwistern in Hebron, vier und sechs Jahre alt, die zitternd und heulend geradezu mit den Augen die Umgebung anflehen, sie doch von den Fängen der IDF-Soldaten zu befreien. Weshalb die zwei halbwüchsigen Burschen festgehalten werden, fragen Anwohner und Ladenbesitzer der Umgebung... Sie seien Spione ruft ein Soldat zurück!
Aber der Burner war der Auftritt des US-Präsidenten bei der UN-Generalversammlung. Donald Trump forderte doch nach seiner Rede die Einleitung einer FBI-Untersuchung gegen UN-Mitarbeiter wegen dem Prompter- sowie Rolltreppen-Vorfall. Wer für die ausgefallene Rolltreppe verantwortlich ist, auf der Melania Trump nur deswegen überlebt hat, weil sie so gut "in shape" ist, soll von einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet werden. Die Antwort der UN: der Prompter wurde von einem Mitarbeiter des Weißen Hauses bedient.
Trump hat unterdessen das FBI beauftragt, zu überprüfen, ob es sich bei den zuständigen Technikern um illegale Einwanderer mit Verbindungen zu diesem schrecklichen Sharia-Bürgermeister von London handeln könnte.
Apropos Verschwörungstheorie: Tucker Carlson, eine journalistische Ikone aus dem Fox-News-Stall, dem Hauptmedium von Trump und der MAGA-Bewegung, versucht derzeit mit Hochdruck den Topos 9/11 auf die tagespolitische Agenda zu bringen, speziell mit Blick auf eine mögliche Rolle Israels und des Mossad. Carlson veröffentlicht dieser Tage eine mehrteilige Dokumentation, in der er vor allem darauf abzielt, zu belegen, dass der offizielle Abschlussbericht zu den Terroranschlägen am 11. September 2001 lügt, täuscht und unterschlägt. Medienwirksam angekündigt, werden mit Beginn dieser Woche jeweils eine Folge pro Woche veröffentlicht.
Die Spekulationen über den Wahrheitsgehalt zu 9/11 sind nicht so wichtig, vielmehr die mögliche politische Motivation dahinter. Wenn Carlson Zweifel am offiziellen Hergang von 9/11 bekundet und dies halbwegs gut dokumentiert begründen kann, wird ein 9/11-Disput aus der Schmuddelecke der stigmatisierten Verschwörungstheorien in den Mainstream durchbrechen. Formales Ziel sei es, eine neue offizielle Untersuchungskommission zu 9/11 zu erzwingen. Flankiert wird das Ganze mit Auftritten und Interviews Carlsons in etlichen populären Talkshows, in denen er vermehrt Israels und Netanjahus Einfluss auf die US-Politik problematisiert.
Ein entlarvender Dialog zwischen einem MAGA-Anhänger und einem Zionisten beschäftigt derzeit die sozialen Medien. Selbst rassistische amerikanische Hinterwäldler scheinen langsam einen klareren Durchblick zu bekommen als ihre Brüder im Geiste in Europa. Die Strategie des Brandstifters Trump, sich in der Rolle des Feuerwehrmannes als unentbehrlich zu verkaufen, scheitert gerade krachend.
Denn, Netanjahu scheint Trump in wesentlichen Punkten über den Tisch gezogen zu haben. Wer Netanjahus über Jahrzehnte immer wieder an den Tag gelegte Verhandlungsstrategie kennt, weiß, dass dieser Mann Konzessionen grundsätzlich nur dann macht, wenn er sicher ist, dass er sie unterlaufen kann.
Auf den ersten Blick positive Formulierungen werden grundsätzlich nur dann akzeptiert, wenn sie optional formuliert werden oder einen Vorbehalt beinhalten. So auch hier: es wird in Aussicht gestellt, dass eine "reformierte palästinensische Behörde" eines schönen Tages die Verwaltung in Gaza übernehmen könnte. Einer solchen Formulierung stimmt ein Netanjahu nur dann zu, wenn er vorher sichergestellt hat, dass dies nie der Fall sein wird.
Zudem ist das, was in den letzten Tagen als 21-Punkte-Plan kommuniziert wurde, in den aktuellen Schlagzeilen auf einen 20-Punkte-Plan zusammengeschrumpft. Was fehlt? In den zahlreichen Quellen, die man überfliegen kann, konnte man ad hoc nichts zum Westjordanland finden. Bis gestern hieß es noch, es werde das Annexionsverbot für das Westjordanland bekräftigt. Genau dies ist für Netanjahu der heikelste Punkt. Denn davon hängt ganz maßgeblich das Überleben seiner Koalition mit Smotrich und Ben Gvir ab. Dieser Punkt scheint in der Vereinbarung vom Tisch zu sein.
Was zumindest in dieser Vereinbarung ebenfalls vom Tisch zu sein scheint, ist die Vertreibung und Zwangsumsiedlung der Palästinenser. Aber es gibt auch widersprüchliches über die militärische Absicherung: internationale Schutztruppe, IDF oder beides? "Schrittweiser Abzug" ohne konkreten Zeitplan deutet darauf hin, dass auch hier Netanjahu versucht, alle Fäden in der Hand zu halten.
Aus der islamischen Welt ist Unterstützung für den Plan signalisiert worden - wohl deshalb, weil zumindest das Gemetzel damit beendet werden kann.
Und immerhin: die Palästinafrage wird künftig wieder internationalisiert. Ein Zurück zu der über Jahrzehnte währenden untragbaren Konstellation, in der sich eine allmächtige Besatzungsmacht mit ohnmächtigen Besetzten in einem rechtsfreien Separee einrichten und ihre Vorstellung von "Frieden" diktieren konnte, sind ein für alle Mal vorbei.
Der "große Wurf", wie Trump vollmundig verkündet hatte, gar ein "ewiger Frieden in Nah-Ost" ist das natürlich nicht. Aber eine Dynamik, die zumindest der Jahrzehnte währenden Sackgasse ein Ende bereiten könnte, wird damit schon in Gang kommen. Was es mit der Tony-"Blaire-Administration" und dem ganzen Konstrukt einer "Sonderwirtschaftszone" auf sich hat: das scheint vorrangig Trumps "Riviera-Vision" zu dienen. Immobiliengeschäfte, Investitionskanäle - vorrangig finanziert durch Golfstaaten - unter dem Schlagwort "Wiederaufbau".
Es scheint so, dass Vereinbarungen, die auf dieser Grundlage getroffen werden, keine lange Halbwertzeit haben werden. Insbesondere wird sich die Lage im Westjordanland mittelfristig deutlich zuspitzen. Auf jeden Fall ist es aber ein Weg, um einen laufenden Genozid wirksam zu beenden. Und das wiegt letztlich schwerer als jede konkrete Kritik.
Man sollte in der gegenwärtigen Phase jede Vereinbarung nur danach bewerten, ob sie dazu führt, dass das Gemetzel beendet, der Geiselaustausch stattfinden und die Versorgung der Bevölkerung gewährleistet wird. Alles andere ist zunächst einmal Papier und als solches geduldig. Insofern muss man zwischen der militärischen und der politischen Dimension der Vereinbarung unterscheiden. Trump und Netanjahu können sich mit Blick auf die politische Dimension einigen so viel sie wollen; die Grenzen einer jeglichen Vereinbarung sind stets vom Völkerrecht gesetzt. Jede Regelung, die das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser missachtet und verletzt, ist somit null und nichtig.
Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass das Völkerrecht für alle bindend ist. Im deutschen Blätterwald wird z.B. anlässlich der Anerkennung Palästinas gerade wieder eine Phantomdebatte ausgetragen.
Es geht um die Frage, wie es denn sein könne, dass ein Gebilde als Staat anerkannt wird, das nicht der Jellinekschen Drei-Elementen-Lehre entspricht.
Dazu ist zu sagen: es gibt in der Staatsrechtslehre keine verbindliche, heilige Formel, nach der sich Staatlichkeit bemessen lässt. Und Jellineks zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierter Ansatz ist in zentralen Belangen überholt. Jellinek setzt die Kriterien Staatsgebiet, Staatsvolk und Exekutivgewalt als Voraussetzung für Staatlichkeit. Für die israelisch-palästinensische Debatte ist dies aus gleich mehreren Gründen untauglich.
Als Jellinek seine Thesen ausführte, war der Eroberungskrieg noch nicht geächtet. Stimson-Doktrin und Gewaltverbot nach UN-Charta waren noch nicht geboren. Was über Jahrhunderte gängige Praxis war - Erweiterung des staatlichen Herrschaftsgebietes durch kriegerische Eroberung - ist im modernen Völkerrecht kategorisch untersagt.
Dieses unbedingte Annexionsverbot hat auch Auswirkungen auf die Frage, wann ein Staat ein Staat ist. War es früher so, dass Staaten und Imperien andere Staaten erobern und sich einverleiben konnten, ist dies heutzutage völkerrechtlich ausgeschlossen. Nach Kriegen ist eine temporäre Besatzung eines Gebietes gestattet, die spätestens mit Friedensschluss beendet werden muss.
Während es zu Jellineks Zeiten also noch üblich war, dass ein Staat Grenzen durch Gewalt verändern und eroberte Gebiete zu seinem eigenen Hoheitsgebiet machen konnte, hat das Annexionsverbot eine Rechtslage geschaffen, in der das Kriterium der Exekutivgewalt für die Frage nach Staatlichkeit obsolet geworden ist. Wenn ein vollständig besetztes Gebiet aufgrund des Annexionsverbotes seiner Staatlichkeit nicht mehr verlustig gehen kann, hat man die Frage nach Staatlichkeit von der Frage nach der Exekutivgewalt losgelöst. Ein Staat hört nicht auf ein Staat zu sein, weil die Bevölkerung eines Gebietes durch eine Besatzungsmacht an der Wahrnehmung seiner eigenen Exekutivgewalt behindert wird.
Das zum ersten. Besonders skurril wird es allerdings, wenn man zwei weitere Aspekte Jellineks ausgerechnet im israelisch-palästinensischen Kontext bemüht: Ben Gurion hat bei der Staatsproklamation expressis verbis auf die Definition eines Staatsgebietes verzichtet. Mehr noch: eine solche ist bis heute nicht erfolgt. Mit diesem besonderen dialektischen Trick behauptet Israel ja, deswegen einen Anspruch auf die Gebiete erheben zu können, die es als "Judäa" und "Samaria" bezeichnet, also das Westjordanland. Platt ausgedrückt: Da man keine Grenzen festgelegt hat - die des Teilungsplanes wurden NICHT anerkannt - könne auch keine Rede davon sein, dass man Grenzen durch Gewalt verschiebe.
Auf Deutsch: diejenigen, die sich unter Berufung auf Jellinek gegen eine Anerkennung Palästinas aussprechen, sollten sich darüber im Klaren sein, dass Israel selber die Kriterien der Drei-Elementen-Lehre verfehlt.
Und zwar nicht nur mit Blick auf das Staatsgebiet, sondern auch mit Blick auf das Staatsvolk. Zwischen 1882 bis 1948 war die jüdische Bevölkerung Palästinas durch Einwanderungswellen aus Ost- und Mitteleuropa von ca. 5% auf ca. 33% angewachsen, der Großteil dieser Migration fand zwischen den beiden Weltkriegen statt. Niemand wird ernstlich behaupten wollen, dass diese Masse an Einwanderern aus europäischen Staaten - viele von ihnen erst wenige Jahre oder Jahrzehnte vor Ort - die Anforderungen an den Begriff eines Staatsvolkes erfüllten.
Wer jetzt also versucht, ausgerechnet mit Rekurs auf die Drei-Elementen-Lehre die Staatlichkeit Palästinas zu bestreiten, sollte sich genau überlegen, was dies für die Frage nach der Staatlichkeit Israels bedeutet.
Im gegenwärtigen Stadium geht es jedoch um die Verhinderung eines Genozids, dass Stoppen eines mörderischen einseitigen Krieges, darum zu hinterfragen, wie und in welcher Reihenfolge folgende Aspekte umgesetzt werden können:
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Geiselaustausch
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Waffenstillstand
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Versorgung der Zivilbevölkerung
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Einrücken einer internationalen Schutztruppe, die von islamischen Staaten gestellt wird
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Entwaffnung der Hamas
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Rückzug der Israelis
Kritisch sind hier vor allem die Aspekte, die im Zusammenhang mit dem Einzug einer Schutztruppe und dem Rückzug der IDF stehen. Netanjahu wird vermutlich versuchen, die Menschen in den Süden zu treiben und den Norden selbst zu halten. Im Süden soll sich dann besagte Schutztruppe um die Menschen kümmern, während Netanjahu unmittelbar dazu übergeht, im Norden Fakten zu schaffen. Kurzum: Netanjahu wird versuchen, jede Vereinbarung so umzusetzen, dass ein von Anfang an bestehendes Herzstück seiner Kriegsziele - die Besatzung eines entvölkerten Nordens - unter dem Deckmantel dieser Vereinbarung umgesetzt werden kann.
Dies muss in einer ersten konkreten Umsetzungsphase eines Abkommens unbedingt verhindert werden. Es bedarf einer robusten internationalen Schutztruppe und eines echten Rückzugs der IDF aus dem Gazastreifen. Das sind die Aspekte, auf die es jetzt vorrangig ankommt, da sie maßgeblich für die weitere politische Entwicklung sein werden.