Israel: Türkei versteckt sich hinter der NATO

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Während in der Türkei keine einzige Seele daran glaubt, dass die NATO bei einem Angriff Israels auf die Türkei, den Bündnisfall ausruft und dem NATO-Mitglied beistehen wird, glaubt man in Israel tatsächlich, dass die Türkei genau auf diese NATO-Karte setzt. Eine Fehleinschätzung, dessen Sinn sich erst erschießt, wenn man den Anspruch des israelischen Premiers Benjamin Netanyahu versteht, der einer gesellschaftlichen Einheit und Disziplin frönt, die "Super-Sparta" heißen soll.

"Wir werden Athen und Super-Sparta sein"
Benjamin Netanyahu

In Israel hat man sich seit dem misslungenen Angriff auf die katarische Hauptstadt Doha medial auf die türkische Verteidigungsfähigkeit fixiert und droht offen mit einem Angriff auf alle Länder, die der Hamas-Führung Unterschlupf und Sicherheit bieten. Wohlgemerkt steht dabei Ankara nach Doha an zweiter Stelle der To-Do-Liste - einigen Kommentatoren zufolge war Ankara sogar vor Doha platziert, aber der günstige Umstand, dass die Hamas-Vertreter sich zuerst in Doha versammelt hätten, scheint Ankara noch Zeit verschafft zu haben; so zumindest die unterschwelligen Drohgebärden aus Tel Aviv.

Aber was ist von dieser israelischen Behauptung zu halten, dass die Türkei sich an die NATO angelehnt hätte, um so ungestört und "ungestraft" gegen Israel faxen zu schieben?

In der Türkei war und ist die Bedeutung der NATO-Mitgliedschaft, vor allem die EU-Anwartschaft, nahezu gen Null! Niemand, wirklich niemand mit einem gewissen Bekanntheitsgrad, hält weder etwas von der Mitgliedschaft in der NATO, schon gar nichts von der EU. Diese Geisteshaltung hatte man schon während des Zuschauens auf die EU beim Händchenhalten mit der Terrororganisation PKK entwickelt, und selbstverständlich bei der Anwendung der Doppelstandards gegenüber der Türkei in der Frage der Beitrittsverhandlungen. In der Frage der NATO sieht es nicht besser aus.

Wenn es möglich wäre, würde man die NATO-Basis in Incirlik, einem wichtigen Luftwaffenstützpunkt in der Südregion der Türkei, die von den USA als operatives Drehkreuz genutzt wird, um NATO-Interessen in der Region zu schützen und integrierte alliierte Luftmacht zu koordinieren, schlicht und einfach aus dem Land vertreiben. Aber da die Türkei ihre Bündnisverpflichtungen ernst nimmt, prallen diese Forderungen in Ankara stets ab.

Das heißt, niemand in der Türkei, auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, setzen allein auf die NATO oder die EU. Wer bodenständig, realistisch und geerdet ist weiß, dass man mit zwei Füßen besser steht als nur auf einem Fuß. Und das bedeutet, dass man sich dementsprechend vorbereitet - sei es in der Frage der Unabhängigkeit in der Rüstung oder das weitere Ausloten von Bündnissen und Partnerschaften in einer bipolaren Welt.

Es kommt auch nicht überraschend, dass NATO-Generalsekretär Mark Rutte plötzlich die Rolle der Türkei im EU-Sicherheitsprogramm SAFE unterstützt. Rutte hatte diese Bemerkung während eines Treffens mit EU-Botschaftern am vergangenen Donnerstag gemacht, kurz nachdem die Europäische Kommission den Antrag der Türkei auf Beitritt zu dem Programm bestätigt hatte. Es war Ruttes erster Auftritt bei einem Treffen der Ständigen Vertreter der EU (AStV), kurz nachdem die Europäische Kommission den Antrag der Türkei auf Beitritt zu SAFE, einem 150 Milliarden Euro schweren Programm, bestätigt hatte.

Rutte lehnte somit auch die Forderung des griechischen Premierministers Kyriakos Mitsotakis ab - der strikt gegen Aufnahme der Türkei in den Plan der Europäischen Union für eine Sicherheitsunion für Maßnahmen (SAFE) war - und stellte sich auf die Seite des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Rutte, der als niederländischer Ministerpräsident einst offen mit Erdoğan aneinandergeriet, ist nach der Übernahme der NATO zu einem großen Unterstützer von ihm und der Türkei geworden und folgt damit der Linie Stoltenbergs. Bereits im Mai hatte sich Rutte gegen deutsche Beschränkungen für den Verkauf von Eurofighter-Kampfjets an die Türkei ausgesprochen und gesagt: „Es sollte keine Beschränkungen für Waffenverkäufe zwischen Verbündeten geben.“

Rutte betonte in seiner Rede in Brüssel, dass eine engere Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei für die Stärkung der NATO unerlässlich sei. Er meinte, die Teilnahme der Türkei an SAFE könne die seit langem bestehenden Bedenken hinsichtlich der Weitergabe sensibler Informationen zwischen der NATO und der EU zerstreuen. Er forderte die EU-Mitglieder außerdem auf, die militärischen Fähigkeiten der Türkei anzuerkennen und mit einer Geste des guten Willens zu reagieren.

SAFE (Sicherheitsaktion für Europa) wurde am 27. Mai 2025 vom Rat der Europäischen Union verabschiedet und ist das neue Finanzinstrument der EU. Es soll den Mitgliedstaaten finanzielle Unterstützung bieten, um ihre Verteidigungsbereitschaft zu beschleunigen, indem dringende und umfangreiche Investitionen zur Unterstützung der europäischen Verteidigungsindustrie ermöglicht werden.

Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel innerhalb der NATO und der EU, bis auf wenige Ausnahmen wie Griechenland, Zypern oder mitunter Deutschland? Angesichts der strategischen Unsicherheit, die US-Präsident Donald Trumps zwiespältige Haltung hervorruft, kommt die Idee, Drittstaaten – europäische oder andere – zum Abschluss bilateraler Abkommen mit der EU zu ermutigen, zu einem besonders günstigen Zeitpunkt: der vielbeschworenen russischen Gefahr, die aus dem Osten auf Europa zurollt, wenn man es denn nicht zuvor in der Ukraine stoppt!

Die Türkei stellt für die Europäer nicht nur einen enormen strategischen Vorteil dar, sondern hat mit der zweitstärksten Armee innerhalb der NATO auch einen großen materiellen Wert. Wer sonst als die Türkei, könnte noch Russland gemeinsam mit den europäischen Ländern die Stirn bieten, wenn Trump sich über dem Atlantik zum Zuschauen mit Popcorn verschanzt und "Make America Great Again" ruft? 

Darüber hinaus hat sich die türkische Rüstungsindustrie aus dem Stand heraus eine herausragende Rolle in der Welt erarbeitet. Neben eigenen entwickelten und erprobten Drohnen, Kampfpanzern, Fregatten, U-Booten und einem unbemannten Kampfflugzeug, bietet die Türkei zudem eine große Produktionskapazität für Mörser, Granaten und Raketen, die auch von der NATO benutzt werden. Wer sonst könnte bei einem Kriegsfall den plötzliche Bedarf an Nachschub liefern, als die Türkei?

Angesichts der Tatsache, dass einige wenige Mitgliedstaaten sich weiterhin der Illusion der europäischen Wertenormen verschrieben zeigen, während man beim Völkermord in Gaza alle Sinnesorgane verschlossen hält, und trotz aller Widrigkeiten weiterhin daran glauben, dass Washington der ultimative Garant ihrer Sicherheit bleibt, bestehen dennoch Zweifel, vor allem innerhalb der NATO in Person von Stoltenberg und seinem Nachfolger Rutte. In einer Zeit, in der Länder in Europa, Asien und Ozeanien mit Bestürzung und Ohnmacht die strategische Neuausrichtung der USA verfolgen, ist die Idee, die Türkei an die strategischen und regulatorischen Mechanismen der Europäische Union zu knüpfen, alles andere als sinnlos. Es ist sogar von existenzieller Natur! Werden die Mitgliedstaaten den Mut haben, sich darauf einzulassen?

Das wirft auf der anderen Seite die Frage auf, wer denn auf wen angewiesen ist. Die Türkei steht sprichwörtlich mit beiden Füßen auf dem Boden. Israel irrt, wenn sie der Türkei vorwirft, ihre NATO-Mitgliedschaft als Joker zu nutzen, um Israel abzuschrecken. Die Türkei hatte des Öfteren gezeigt, dass sie auch ohne die NATO-Unterstützung entgegen der US-, russischen-, iranischen- sowie europäischen Interessen, in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft militärisch vorgehen kann und wird - mehrmals und mitunter gegen alle widrigen Widerstände aus dem atlantischen und europäischen Raum.