In der türkischen Hauptstadt Ankara wird sich am kommenden Montag ein Gericht mit der Frage auseinandersetzen, ob während des 38. Parteitags Delegierte geschmiert wurden oder nicht. Es droht die Absetzung des Chefs der größten Oppositionspartei CHP, Özgür Özel.
Wurde beim 38. Parteitag der CHP vom 16. September bis zum 17. Oktober 2023 geschummelt, um den einstigen Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu mit Bruch des Parteiengesetzes zu stürzen? Mit dieser Frage wird sich das 42. Verwaltungsgericht in Ankara am kommenden Montag befassen. Es kommen mehrere Szenarien in Frage:
1) Das Gericht schmettert den Antrag ab.
2) Das Gericht setzt zur Beratung oder weitere Einsicht auf die Akten einen neuen Verhandlungstermin an.
3) Das Gericht beruft einen parteiinternen Treuhänder, der die Parteiführung übernimmt.
4) Das Gericht verfügt einstweilig bis zur Urteilsverkündung einen parteiinternen Treuhänder.
Das bedeutet, wenn das Gericht morgen die letzten zwei Optionen aufgreift, wird ein dem Gericht genannter CHP-Kandidat die Parteiführung vorerst oder vollends übernehmen; in diesem Fall fällt immer wieder der Name Kemal Kılıçdaroğlu. Kılıçdaroğlu hat sich bislang zu diesem Thema überhaupt nicht geäußert, während das Lager um Özgür Özel kein Blatt vor den Mund nimmt, den Parteigenossen durch den Dreck zu ziehen.
Man erkennt, welche selbstzerstörerischen Kräfte inzwischen innerparteilich wirken. Derart, dass die Partei vor einer Zerreißprobe steht. Letzte Woche konnte man Live erleben, wie so eine gerichtlich angeordnete treuhänderische Übernahme des Istanbuler CHP-Kreis-Verbandes vonstattengeht. Hier wurde ebenfalls der Vorwurf erhoben, dass Delegierte beim letzten Kreis-Parteitag von Istanbul geschmiert worden seien, um Özgür Çelik in den Sessel zu hieven. Jetzt steht der Lackmustest der CHP im Land bevor.
Und wer hat das alles angestoßen? Parteigenossen selbst, die bereits kurz nach dem 38. Parteitag der CHP in Ankara schwerwiegende Vorwürfe erhoben hatten und damit vor Gericht gingen. Mitnichten ist die AKP-/MHP-Koalitionsregierung in dieser Frage involviert, wie deutsche Medien rauf und runter rezitieren. Es ist ein hausgemachtes Problem der CHP selbst.
Ein Beispiel? Hatip Karaaslan, CHP-Delegierter aus Izmir, ist einer der Kläger gegen den Parteitag. Seine Ansicht zum Thema fasste er vor dem anberaumten Gerichtstermin so:
Ekrem İmamoğlu hat den Parteitag als Sprungbrett zum Präsidentenpalast benutzt. Unser Vorsitzender, Özgür Özel, wurde als zweifelhafter Vorsitzender vom zweifelhaften Kongress gewählt. Als Mitglied der Republikanischen Volkspartei habe ich Klage eingereicht, damit der Name meiner Partei nicht beschmutzt wird, sie von zweifelhaften Informationen reingewaschen wird und alle Vorgänge aufgedeckt werden. So wie ein Kranker einen Arzt konsultiert, habe auch ich das Gesetz konsultiert.
Ein weiterer Kläger, Lütfü Savaş, ehemaliger CHP-Bürgermeister von Hatay, erklärte hierzu:
Die 104-jährige Partei muss vom Makel befreit werden! İmamoğlu hat die Chemie der CHP mit Geld gestört.
Und Yılmaz Özkanat, CHP-Delegierter aus Batman als weiterer Kläger:
Von oben bis unten weiß jeder alles. Es gab Fehler und Korruption. Als aufrechtes CHP-Mitglied habe ich Klage eingereicht, damit die Partei von allen Verdächtigungen befreit und von dieser Kontroverse befreit werden kann.
Das bedeutet, die vorgenannten Kläger wie auch Levent Çelik und Kamile Önal, belasteten als CHP-Mitglieder selbst den Parteitag. Sie werfen der gegenwärtigen Ankaraner Parteiführung vor, die Delegierten geschmiert und so eine demokratische Wahl vereitelt zu haben, damit Özgür Özel den ehemaligen Parteichef vom Thron stürzt und Ekrem İmamoğlu mit Korruption an seiner weiteren Karriere arbeiten kann.
Was an sich schon schlimm ist, wird mit den Vorwürfen der Erpressung, Korruption, schwerem Betrug und Fälschung von Ausschreibungen gegenüber CHP-geführten Kommunen, Städten und Metropolen noch getoppt. Bekanntestes Gesicht hierzu: Ekrem İmamoğlu.
İmamoğlu wird nicht nur vorgeworfen, in der Metropole umfassend an Erpressung, Korruption, schwerem Betrug und Fälschung von Ausschreibungen gearbeitet zu haben, sondern der Kopf der kriminellen Organisation zu sein. Und auch hier sind die Kläger wieder eigene Parteigenossen, die die Gerichte beschäftigen.
Das heißt, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan schaut gerade zu, wie sich die Opposition selbst zerlegt. Die Kläger stammen aus der CHP, die Kronzeugen sind allesamt aus der CHP, ja sogar Geschädigte selbst sind CHP-Mitglieder, die sich der Klagewelle angeschlossen haben oder mildernde Strafmaße erhoffen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Verhaftungswellen nicht abebben wollen. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft ordnete am vergangenen Freitag die Festnahme von 48 Mitgliedern des Bezirksrats im Stadtteil Bayrampasa an, darunter Bezirksbürgermeister Hasan Mutlu (CHP) und dessen Stellvertreter. Auch hier stammen die Kläger aus dem Kreis der CHP selbst.
Was macht derweil die CHP-Führung unter Özgür Özel? Sie füttert die europäische Medienlandschaft mit abstrusen Verschwörungstheorien, ohne auch nur einen einzigen der Kläger, Kronzeugen oder Geschädigten juristisch in Regress zu nehmen. Stattdessen werden die mutmaßlichen oder bereits gerichtlich eingesetzten Treuhänder von einer Trollarmee beleidigt. An diesen Schmierentheatern und Schmutzkampagnen beteiligen sich sogar gestandene CHP-Politiker oder Medienvertreter aus der Nähe der CHP, die bisweilen unter die Gürtellinie gehen.
Jüngstes Beispiel: Die Verschwörungstheorie des CHP-nahen Journalistem Merdan Yanardağ: „Es gibt viele Aleviten unter den Verrätern“. Prompt meldete sich der Rundfunkrat zu Wort. RTÜK-Präsident Şahin erklärte hierzu:
Jede Aussage, die sich gegen die Einheit und Solidarität der Gesellschaft richtet, kann unabhängig von ihrer Begründung nicht entschuldigt werden. Merdan Yanardağs Aussage auf Tele1, ‚Es gibt viele Verräter unter den Aleviten‘, ist eine Hassrede, die sich gegen unsere alevitischen Bürger richtet, spaltend und beleidigend ist und den sozialen Frieden stört.