In der Türkei wurden bei der zuletzt fünften Verhaftungswelle weitere Angestellte und oppositionelle Bürgermeister aus Istanbul und Adana verhaftet. Auf der anderen Seite wurden elf Personen aus der Untersuchungshaft entlassen, die zuvor mit der Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft vollumfänglich kooperiert, dabei mit teilweisen oder vollen Schuldeingeständnissen eine Freilassung bis zum Verhandlungstag herausgeschlagen hatten.
Die Polizei in der Türkei hatte die fünf Oppositionspolitiker und siebzehn weitere Personen bei der vorerst letzten Razzia am Mittwoch festgenommen. Begründet wurde das Vorgehen mit der Untersuchung wegen Korruptionsvorwürfen in Gemeinden, die von der CHP regiert werden.
Schlimmer als Ekrem İmamoğlu geht nimmer, dachte man sich bislang. Doch je länger und tiefer die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaften in Istanbul, Ankara oder Adana anhalten, je mehr Verhaftete oder Untersuchungshäftlinge von der „wirksamen Reue“ (etkin pişmanlık) Gebrauch machen, je mehr der schriftlichen Aussagen von Verhafteten in Umlauf geraten, desto eher hegt man mittlerweile den Verdacht, dass hier ein "Eko-System" im Gange war, dessen Zerschlagung die Türkei an den oppositionellen Fundamenten rütteln wird.
Erstmals bezeichnete der türkische Unternehmer Eyüp Subaşı in seiner vollumfänglichen Aussage gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul die Korruptionsvorwürfe in Zusammenhang mit dem ehemaligen Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu als "System". Seither wird in sozialen Medien oder in den unzähligen TV-Talkshows von einem "Eko-System" gesprochen. "Eko" steht hier für Ekrem, sprich Ekrem İmamoğlu.
Mit Beginn der Razzia gegen den ehemaligen OB von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, am 19. März, verstärkt sich nicht nur der Druck auf den "Kopf" des "Systems" der "kriminellen Organisation", sondern auch auf die Oppositionspartei CHP selbst. Und damit vor allem der Druck auf den Parteivorsitzenden Özgür Özel. Der brillierte zuletzt mit einem außerordentlichem Wink mit dem Zaunpfahl, ausgerechnet in Richtung des ermittelnden Istanbuler Generalstaatsanwalts Akın Gürlek.
Als wenn es schon nicht genug Probleme gebe, wie z.B. mit den "gekauften Delegierten-Stimmen" zur Vorsitzendenwahl während der 38. Generalversammlung am 5. November 2023, bei der der ehemalige Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu seinem Kontrahenten Özgür Özel um wenige Stimmen unterlag, positioniert sich nun Özgür Özel selbst geradezu mutwillig ins Fadenkreuz der Justiz. Laut Medienberichten hat die Generalstaatsanwaltschaft von Istanbul nach dem jüngsten Fauxpas die Ermittlungen gegen den CHP-Vorsitzenden aufgenommen: wegen Drohung und Nötigung gegen Amtsträger.
Die Ermittlungen in Zusammenhang mit "gekauften Delegierten-Stimmen" sind in Ankara bereits im vollen Gange und gehen demnächst in die Anklageerhebung über. Wenn die Vorwürfe ernst genommen werden und es zur Anklage kommt - und das wird es, droht Özgür Özel nicht nur eine Strafe, sondern die juristisch angeordnete Abwahl und die Wiederernennung seines einstigen Ziehvaters und jetzigen Gegners Kemal Kılıçdaroğlu zum Parteivorsitzenden. Kemal Kılıçdaroğlu selbst hatte kurz nach der 38. Generalversammlung die Wahl als getürkt dargestellt und seinen politischen Weggefährten Özgür Özel und Ekrem İmamoğlu vorgeworfen, ihn hinterhältig erdolcht zu haben. Zudem, die Korruptionsvorwürfe gegen den ehemaligen Bürgermeister der Istanbuler Gemeinde Beykoz, Alaattin Köseler (CHP), ist nun als Anklageschrift dem Gericht vorgelegt worden. Für den 2. September ist der erste Verhandlungstag angesetzt.
Offensichtlich stolpern Özgür Özel und Ekrem İmamoğlu nun selbst über die eigenen selbst gestellten Fallen, und über ihr hehres Ziel: der Kandidatur zur Präsidentschaftswahl, die doch erst in drei Jahren ansteht. Nicht nur das: sie tanzen bislang auch politisch auf einem dünnen seidenen Faden. Während Ekrem İmamoğlu noch immer auf seine „gekaufte“ Popularität zurückgreifen kann, die mit Social-Media-Bots mehr schlecht als recht aufrechterhalten wird, muss Özgür Özel als politisches Leichtgewicht nun alle Register ziehen, um den entstandenen Imageschaden abzuwenden. Doch reicht allein der Wink mit dem Zaunpfahl?
Experten sind sich einig, dass der Schaden für die Partei selbst immens sein wird, vor allem dann, wenn die Anklageschriften stehen und nach Jahren und juristischem Tauziehen die Anschuldigungen in Verurteilungen enden und rechtswirksam werden.
Dabei würde z.B. allein schon ein Blick auf die Begründung des Haftrichters vom 23. März 2025 reichen, um zu verstehen, wie ernst es um Ekrem İmamoğlu steht. Das wird unerklärlicherweise nicht angesprochen oder ausgesprochen. Denn, in der Begründung zur Untersuchungshaft wurde vom Gericht detailliert vorgetragen, weshalb man der Generalstaatsanwaltschaft zustimme, Ekrem İmamoğlu in Untersuchungshaft zu nehmen. Zwar bekommt man in der Begründung des Haftrichters nicht mit, welche einzelnen konkreten Vorwürfe von der Generalstaatsanwaltschaft mit Beweisführung vorgetragen wurden, aber die Begründung an sich liefert schon allein für sich den stark begründeten Verdacht, dass die erhobenen Anschuldigungen nicht nur von der Hand zu weisen sind, sondern in der Beweisführung auch Hand und Fuß haben, die das Gericht überzeugt haben. Die Generalstaatsanwaltschaft hat offensichtlich ihre Hausaufgaben gemacht, und das war auch dringlich geboten, angesichts der Populärperson und dem Status von Ekrem İmamoğlu.
Deshalb und gerade wegen dieser geradezu empörenden Anschuldigungen gegen einen „Präsidentschaftskandidat“ der CHP, wäre vor allem auch die Frage zu stellen, weshalb die CHP-Führung es bislang eklatant versäumt hat, die vor den Generalstaatsanwaltschaften gesprächigen, kooperativen einstigen politischen Weggefährten, kommunalen Bediensteten oder Unternehmer wegen Verleumdung anzuklagen. Sind sie doch allesamt jene, die in dieser Korruptionsaffäre laut eigenen Aussagen selbst verwickelt waren, diese Vorwürfe ja selbst bestätigten. Doch aus unerfindlichen Gründen stellt sich die Parteiführung hierbei tot, geht nicht einmal auf diesen Personenkreis selbst ein, sondern ausschließlich auf die Regierungskoalition. Bis jetzt - nach Wochen und Monaten - hat weder Ekrem İmamoğlu noch Özgür Özel oder die Partei an sich, eine einzige Verleumdungsklage oder Anzeige gegen einen dieser unzähligen eigenen "Lügner" eingereicht, wie die Heerschar von Social-Media-Bots uns stets glaubhaft machen will.
Zudem, Özgür Özel und Ekrem İmamoğlu stehen doch allein wegen CHP-Mitgliedern selbst im Fadenkreuz der Justiz, die seit der 38. Generalversammlung unzählige Strafanzeigen gestellt oder in Funk und Medien die Parteiführung angegriffen haben.
Offensichtlich hatte sich das Projekt "Ekrem İmamoğlu run for President" für viele wohl doch nicht rentiert oder zahlten sogar drauf, die in den Moloch des OB von Istanbul gerieten. İmamoğlu hatte laut dem Unternehmer Eyüp Subaşı die Korruption für sich, die politische Karriere und zuletzt für die Präsidentschaftskandidatur entdeckt. Er konnte offensichtlich nicht mehr genug bekommen, um diese Ziele zu erreichen, erklären weitere Unternehmer, die ebenfalls in dieses Moloch gerieten und die Vorwürfe von Subaşı teilen.