Als Rechtsextremisten vor 29 Jahren den Brandanschlag in Solingen verübten, sendeten sie damit ein politisches Signal. Bei dem Brandanschlag verlor die anatolische Mutter Mevlüde Genç zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte. Noch heute kann man Parallelen zu der Rhetorik von damals erkennen, obwohl Mevlüde Genç der Gesellschaft ein schweres Vermächtnis hinterlassen hat. Das wird aber wieder in Abrede gestellt.
Am Dienstag war Mevlüde Genç ein letztes Mal vor dem Grundstück in Solingen, wo vor 29 Jahren ihre zwei Töchter von Mevlüde und Durmus Genç, Hatice und Gürsün, zwei Enkelinnen, Hülya und Saime, und die Nichte Gülistan im Haus im Feuer umkamen. 17 weitere Familienangehörige wurden zum Teil sehr schwer verletzt.
Nur wenige Tage nach dem Brandanschlag sorgte der Appell von Mevlüde Genç für viel Respekt und eine Normalisierung der angespannten Situation. Sie erklärte, der Tod ihrer Kinder müsse das Tor zur Aussöhnung öffnen. Sie wünschte sich Respekt untereinander, unter den Menschen im Alltag, die mit verschiedenen Kulturen auskommen müssten.
Am vergangenen Sonntag ist diese bewundernswerte Frau, Mutter, Großmutter, Botschafterin der Nächstenliebe und des Friedens von uns gegangen.
Mich berührt das zum Teil direkt, weil Mevlüde Genç und ihre Familie aus derselben Provinz in der Türkei wie meine Eltern stammen - Amasya. Ich kann mich noch vage daran erinnern, wie mein Vater sich mit vielen aus dieser Provinz in den Kurzferien in der baden-württembergischen Schillerstadt traf, darunter auch die Familie Genç.
Heute wurde sie in einem großen Aufgebot einer Trauergemeinschaft verabschiedet. Ihr Leichnam ist sicherlich schon in der Türkei und auf dem Weg in ihr Heimatdorf Mercimekköy, in der Kreisstadt Taşova. Ich nahm an der Trauerfeier teil, weil ich Ihr und Ihrer Familie Respekt zollen und mein Beileid aussprechen wollte.
Es war eine schöne Trauerfeier. Der Imam fand die richtigen Worte, der OB von Solingen sprache aus tiefster Überzeugung und auch der Ministerpräsident des Landes NRW, war zugegen, um ein paar Worte an die Familie Genç zu richten. Ich fand es auch richtig, dass die Familie während der Trauerzeremonie keine Blitzlichter, hochgehaltene Handys und Kameras wünschte. Bis auf wenige Ausnahmen wurde dieser Wunsch respektiert.
Es war trotz der durchweg schwarz gehaltenen Trauergemeinde - es wehten keine Fahnen in den Händen, es wurden keine symbolischen Abzeichen einer Partei oder eines Verbandes offen zur Schau gestellt - auch ein politisches Signal. Der Ort, an dem die Trauerfeier stattfand, sollte ein Vermächtnis für uns werden, daran zu denken, was Hass und Hetze bewirken kann und was wir gemeinsam tun können. Das Trauergebet des Imams der Kölner Ditib-Gemeinde und die Rede des türkischen Botschafters Ahmet Başar Şen, unterstrichen dies erneut: Lasst Hass und Hetze nicht zu!
Umso trauriger stimmt es einen Menschen wie mich, dass der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz wie einst der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nicht vor Ort war. Letzterer hatte sich damit begnügt, es als Beileidstourismus zu bezeichnen. Heute wäre das eine Gelegenheit für den heutigen Bundeskanzler gewesen, Haltung zu zeigen, ein politisches Signal zu senden; gegen die Ignoranz herrschender intoleranter und rassistischer Strukturen in diesem Land. Eine Haltung, aus der man die Entschlossenheit hätte erkennen können, dass sich etwas ändern wird.
Verärgert bin ich darüber, dass manche gerade diese Trauerzeremonie politisch instrumentalisieren. Von einer „politischen Veranstaltung“ spricht „nd - Journalismus von Links“. Jene linke Szene, die schon beim Brandanschlag von Mölln im Jahre 1992, die Todesopfer und neun Schwerverletzten für sich vereinnahmte, und damit die türkischen „Gastarbeiter“ und deren Trauer und Zorn außen vor ließ.
Heute zitiert die linke Szene Murat Kayman, der mal der „Ditib-kritischen“, dann wieder der „progressiven“ Alhambra-Gesellschaft aus Köln angehört. Was beide Merkmale dieser Gesellschaft für eine politische Bedeutung aussenden sollen, sei dem Leser überlassen. Kayman kritisiert den Aufruf eines Millî-Görüş-Funktionärs. Verbände hätten Mevlüde Genç und ihr Wohnzimmer als „Kulisse missbraucht“. Sie sei für die Verbandsfunktionäre nur der „Pokal“ einer „Opferrhetorik“. Versöhnung und Zusammenhalt seien nicht in ihrem Interesse, es gehe um „Spaltung und identitäre Frontenbildung“. Liebe Redaktion der „nd“: Umgekehrt wird ein Schuh daraus.
Vielleicht wünschte sich Ihr Ehemann Durmus Genç die Gemeindemitglieder der Millî-Görüş oder der Ditib? Vielleicht waren es Familienangehörige, die Mevlüde Gençs letzten Willen umsetzten? Vielleicht drehen wir die Medaille ganz einfach um?
Die Mehrheitsgesellschaft wollte sich mit Mevlüde Genç einen Persilschein ausstellen, überhäufte sie mit Preisen und Auszeichnungen, mit der sie sich das Gewissen erleichterten. Das ließ Mevlüde Genç bis zu einem gewissen Grad zu, lehnte jedoch den Plattino-Preis bzw. Integrationspreis von 2019 ab, in der neben Ihr noch der Kabarettist Fatih Çevikkollu ausgezeichnet werden sollte. Der Grund ist vielen bekannt.
Mevlüde Genç war da bereits zur Mutter der Nation avanciert, damit unberührbar geworden, weshalb man die Ablehnung des Preises den Flüsterern zuschrieb, die ja wieder einmal in der Türkei oder mit der Türkei zu verorten waren. Je nach Situation war Mevlüde Genç also eine Versöhnerin, jene, die ihre Hand gereicht hatte, die stark war, Hass gegen Liebe, Ausgrenzung gegen Versöhnung zu tauschen. Aber wenn diese starke Frau dann einen Preis ablehnte, waren es Flüsterer, die in den Reihen türkischer Vereine, Verbände oder der türkischen Regierung zu suchen sind. Wie passt das zusammen?
Dabei war Ihr Motto relativ leicht und verständlich, um zu verstehen, dass sie eigentlich Ausgrenzung infolge von sozialen Deutungsmustern gegenüber Ihr, Ihren Landsleuten oder dem Land verhindern wollte: „Wir müssen nach vorne gucken nicht zurückblicken. Wir müssen doch alle friedlich miteinander in diesem Land leben.“ Offensichtlich werden diese Feindbilder in positiven Selbstbildnissen wie Murat Kayman wieder aufgelebt - nur wenige Stunden nach dem Mevlüde Genç von uns gegangen ist.