Gaza: Deutschland hat alle roten Linien überschritten

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Der inflationäre Gebrauch des Wortes "Antisemitismus" in Deutschland ist unerträglich geworden und banalisiert zugleich das alltägliche Grauen des Vernichtungskrieges in Gaza. Wo Euphemismen mehr Beachtung geschenkt wird als der andauernden Gewalt selbst, da findet nicht nur Meinungslenkung statt, sondern werden klammheimlich humanitäre, völkerrechtliche Prinzipien über Bord geworfen. 

Wer zudem ständig einen gestandenen Staat wie Israel mit einer unter Besatzung stehendem Staat Palästina vergleicht, gibt ein unfreiwillig gutes Bild dafür ab, wie man beim Nahost-Konflikt zunehmend jegliche Aufrichtigkeit im Diskurs erstickt.

Und noch etwas viel mir in den Wochen und Monaten auf: die Kriegsgeilheit, die in Schrift, Bild und Ton (immer noch) etabliert wird, und die vorgegaukelte Faszination darüber, welche Macht und Gewalt der Krieg (noch immer) innehat, um angebliche Sicherheit, Frieden und Demokratie zu schaffen.

Zuletzt konnte man das eindrucksvoll während des Angriffskriegs Israels gegen den Iran beobachten. Deutsche Medien Hand in Hand mit gestandenen Politikern und Politikerinnen sowie Meinungs- und Stimmungsmachern, waren einzig und allein damit beschäftigt, Nebelkerzen zu zünden: eigentlich doch nur Prachtexemplare vom Schlag eines Netanjahus. Von einer Eskalation zwischen Erzfeinden, mangelnder Kooperationsbereitschaft des Iran mit der internationalen Atomenergiebehörde IAEA oder angeblicher Provokation seitens des Irans, davon war ständig die Rede.

Das hatte auch einen ganz bestimmten Grund, zumal die "Begeisterung" zu Kriegen und Konflikten im Deutschen Lande doch nicht so recht aufkommen wollte, wie man es sich erhofft hatte, um das genozidiale Treiben in Gaza zu decken. Gleich nach dem Angriffskrieg auf den Iran kam z. B. die Bundespressekonferenz zu dem Schluss, dass die kriegerischen Angriffe Israels allen Ernstes als Selbstverteidigung zu bewerten seien. Man stellte einen Zusammenhang zu einer vorherigen Erklärung der IAEA her, in der dem Iran eine mangelhafte Zusammenarbeit mit der Behörde attestiert wurde.

Und jetzt kommst: Selbst wenn der Iran den Atomwaffensperrvertrag komplett aufkündigt hätte, das kann keinen, absolut keinen Einfluss auf die völkerrechtlichen Mechanismen haben, die über Krieg und Frieden entscheiden.

Etwaige Verletzungen des Atomwaffensperrvertrages und den damit verbundenen Verpflichtungen eröffnen in keiner Weise irgendwelchen Drittstaaten das Recht auf unmittelbare kriegerische Intervention. Das Gewaltmonopol liegt einzig und ausschließlich beim UN-Sicherheitsrat - außer im Falle des Rechts auf Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charta. Und dieses liegt hier eindeutig auf der Seite des Iran. Israel hatte einen illegalen Angriffskrieg begonnen. Man kann über diese surreale, geradezu absurde Täter-Opfer-Umkehr nur noch den Kopf schütteln.

Weite Teile der Welt sind geprägt von einem historisch gewachsenem Gerechtigkeitsempfinden und Nationalstolz. Erstere hatte doch bis zuletzt Deutschland in die Welt getragen, in dem sie z. B. der Türkei die Prinzipien des humanitären Völkerrechts einhämmerte, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit faselte. Und nun? Jetzt schwingt die Türkei den Finger gen Berlin und ruft die Bundesregierung dazu auf, sich an das Völkerrecht zu halten - und nicht nur sie, sondern der gesamte globale Süden sowie vereinzelte EU-Staaten.

Letzterer, der Nationalstolz, ist ebenfalls historisch begründet. So wie der Iran oder die Türkei, die aus sich heraus gewachsen sind. Anders als hierzulande zu erwarten wäre oder von Meinungsmachern euphorisch prophezeit wurde, wird eine direkte Einmischung in innere Angelegenheiten, ob diplomatisch, aus dem Untergrund oder kriegerisch, von der Bevölkerung vollumfänglich anders interpretiert, als man gemeinhin annimmt. Diese Einmischung trifft sie über Konfessionen, Abstammung und Status hinweg in ihrem Nationalstolz und führt dazu, dass sie sich trotz aller demokratischen oder ökonomischen Defizite reflexartig in den Verteidigungsmodus versetzen. 

Der Schah-Sohn Reza Pahlavi, die vielen Exil-Iraner, die während ihrer Independence-Aufmärsche auf New Yorker oder Berliner Straßen die heimischen Iraner in ihrer Erwartungshaltung voller Vorfreude aufforderten, sich doch gegen die Mullahs zu erheben, konnten von mir daher nur ein müdes Lächeln entlocken. Hat man denn von der Geschichte überhaupt nichts gelernt?

Aber kommen wir zum eigentlichen Krieg, dem Vernichtungskrieg in Gaza. Krieg ist manchmal gerechtfertigt, vor allem wenn man sich auf das Recht der Selbstverteidigung beruft. Das heißt aber vereinfacht gesagt nicht, dass ich einem Menschen das Leben aushauchen darf, ihm eine anständige Bestattung verwehre, danach in sein Haus steige, es bis auf die Grundmauern niederbrenne, sein Hab und Gut zerstöre und dabei seine ganze Sippschaft samt Nachbarn und Getier durch die Manage treibe und einzeln töte. Genau das passiert in Gaza, und es soll noch weiter gegangen werden, was die Menschheit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr für möglich gehalten hätte. Aber das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange...

Im israelischen Fernsehen - genauer beim regierungsnahen Sender "Channel 14" - forderte der Moderator Elad Barashi wortwörtlich den Einsatz von Gaskammern und rief dazu auf, in Gaza eine "Shoa", einen "Holocaust" zu verüben. Und das in einer Zeit, in der der Gaza-Krieg in Israel weiterhin eine überwältigende Zustimmung findet. Es ist beileibe nicht die einzige Stimme in Israel, sondern eines von sehr vielen Stimmen, die Gaza entvölkert sehen, den Iran in die Steinzeit gebombt und als nächstes anvisieren, die Türkei als größte Gefahr für Großirael, ausschalten wollen, weil es so in der Tanach prophezeit werde.  Aber zunächst widmet man sich den Palästinensern, weil die gewaltig stören.

Gegenwärtig werden die ausgehungerten Palästinenser aus einem Gaza-Ghetto über die Trümmerberge in die nächste beordert, damit sie nach stundenlangem Warten in Metallkäfigen dann wieder herausgetrieben und niedergeschossen werden. Diese Gut-Böse Einordnung hat also fatale Ausmaße angenommen, vor allem weil uns die Mainstream-Medien bislang ständig versichert haben, dass unter jedem einzelnen getroffenen Haus, Krankenhaus, Zeltlazarett, Moschee, Kirche, Flüchtlingslager oder Latrine im Gazastreifen ein Hauptquartier der Hamas untergebracht sei. Was man angesichts der apokalyptischen Zerstörung im Gazastreifen seit langem befürchtet hat - nämlich dass die Todeszahlen deutlich höher sein dürften, als die bislang namentlich erfassten 60.000, scheint uns jedoch eines Besseren zu belehren. Eine via Harvard Dataverse veröffentlichte Studie eines israelischen Professors (Yaakov Garb), die u. a. auf der Analyse von Daten der IDF basiert, kommt auf aktuell 1,85 Millionen Menschen im Gazastreifen - 377.000 weniger, als vor dem "Krieg". Sprich, eine Bevölkerung in der Größenordnung der Stadt Wuppertal wurde pulverisiert, eingeäschert, in Stücke gerissen oder unter Trümmerbergen lebendig begraben.

Hierzulande schreien die hiesigen Kriegstreiber, die gleichgesinnte Kameraden um sich scharen wollen, um in einer Fankurve den Krieg zwischen Gut und Böse gemeinsam zu bejubeln, immer noch "Hamas... Hamas!". Da schimmert bei diesem Typhus von Mensch wohl ein bisschen der postrheumatische "saubere Wehrmachtssoldat" durch, der sich nach Heldentum sehnt. Die eigentlichen Helden, die werden erschossen, weggebombt oder während einer Cafepause getötet, weil sie über diese vorherrschenden Zustände berichten wollten. Wie jüngst, als das Al-Baqa Café in Gaza bombardiert wurde, in der 24 Palästinenser, darunter Journalisten und Aktivisten, eine Pause eingelegt hatten. Laut Reporter ohne Grenzen (RSF) beklagt man seit dem 7. Oktober 2023 allein in Gaza fast 200 getötete Medienschaffende. Die meisten von ihnen kamen bei Angriffen des israelischen Militärs ums Leben. 45 von ihnen wurden im Zusammenhang mit ihrer Arbeit gezielt getötet. Kein anderes Land seit der Gründung der Vereinten Nationen, kann so viele Strichmännchen aufweisen.

Israel hat alle roten Linien überschritten, Deutschland hat dafür auch ihre eigenen roten Linien geopfert. Sollte sich in Deutschland jemals ein Politiker oder Politiker, ein Experte oder Expertin sich auch nur abfällig über die mutmaßlichen Zustände in der Türkei äußern, sollte jeder Türkischstämmiger entgegnen, dass man sich jegliche demokratisch-rechtstaatlichen und moralischen Belehrungen verbittet, weil man ja der Komplizenschaft und Beihilfe bei einem mutmaßlichen Genozid, ethnischer Säuberung und der Aufrechterhaltung eines Apartheidsregimes schuldig gemacht hat.