Eren Güvercin und das Meinungsdiktat über HAMAS

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Türken und Muslime, ja sogar Palästinenser verwirken offenbar ihren Status als Mitbürger in Deutschland, wenn sie nicht klipp und klar darlegen, dass sie die Meinung von Eren Güvercin vollumfänglich und ohne "wenn" und "aber" teilen. Verurteilen sie die HAMAS nicht, verwirken sie auch ihr Existenzrecht, denn sie sich ja erst noch hart verdienen müssen. Was versucht Güvercin uns zu sagen? Den aktuellen nötigen Diskurs in der Öffentlichkeit, in Medien und in der Politik unmöglich zu machen und ausnutzen, um jeden Versuch einer Differenzierung als Sympathie mit der HAMAS auszulegen und als Antisemitismus abzutun?

Wer z.B. die islamischen Gemeinden subtil unter Generalverdacht stellt oder zu einer vorbehaltlosen Solidarität mit Israel drängt und in diesem Sinne erwartet oder verlangt, bestimmte Positionen ohne jegliche Differenzierung einnehmen zu müssen – da man ansonsten Gefahr laufen könnte, als Antisemit oder gar Sympathisant der HAMAS gebrandmarkt zu werden – der trägt als sogenannter Islamexperte zur Radikalisierung, Verhärtung der Fronten und nicht zur Versachlichung der Debatte bei.

Das kann man im übrigem auch bei Murat Kayman beobachten, der offensichtlich die Nadel im Heuhaufen sucht und stets fündig wird, um als Blockwart mit der eigenen Wahrnehmung Persönlichkeiten in die Schmuddelecke des Antisemitismus zu rücken. Kayman nahm sich diesmal den Direktor des Instituts für Islamische Theologie der Universität Osnabrück, Bülent Ucar, zur Brust. Womit haben wir es also zu tun? Mit Wahrnehmungsdefiziten oder doch nur um Geländegewinne um jeden Preis?

Der Konflikt zwischen Palästinensern und dem Staat Israel hat wenig mit dem Islam zu tun – im Nahen Osten selbst wie auch hier nicht. Es ist vielmehr eine Auseinandersetzung um Siedlungspolitik und Grenzen Israels, um Macht der israelischen Regierung und Freiheit der Palästinenser. Es ist nicht in erster Linie ein religiöser Konflikt der auf Deutschland überschwappt, wie Eren Güvercin oder Murat Kayman es im Duett kolportieren, sondern ein Kampf um Landbesitz und Identität in Palästina, nicht um Antisemitismus in Deutschland. Eine religiöse Aufladung auf beiden Seiten spitzt die Lage drüben wie hier jedoch immer mehr und unverantwortlich zu.

Meine Eltern haben mir nicht nur einen Glauben an Gott vermittelt, sondern den Glauben an Gerechtigkeit, Demut, Gleichheit und Respekt. Das und die Faktenlage ist mir alles zu wichtig, als es einem Eren Güvercin oder Murat Kayman zu überlassen, die nicht damit leben können, dass ihre kolportierte Meinung nicht vollumfänglich geteilt wird. Ihre vorschnelle und undifferenzierte, mit einem aggressiven Ton überbrachte angebliche Kritik, soll Menschen und Gruppen vor allem in Verruf bringen. Wie kommt das bei Beobachtern an?

Es ist doch bemerkenswert, mit welcher Energie sich z.B. Eren Güvercin seit Ende 2016 den türkisch-islamischen Organisationen widmet, deren erklärtes Ziel es ist, die türkische Kultur und Religionsauffassung zu erhalten und wiederzugeben. Bis 2016 turnte er doch selbst in den besagten Organisationen herum und machte sich einen guten Ruf. Weshalb nahm er den Kampf gegen eben diese Organisationen plötzlich und unvermittelt auf und beschäftigt sich seit Jahren in Deutschland ausschließlich mit ihnen? Profiliert er sich an ihnen? Versucht er die als Gegner wiedergegebenen Organisationen in Deutschland zu isolieren?

Der Kampf bezieht sich dabei offensichtlich gegen die Einflussnahme der Türkei, dient aber der Parteinahme für Israel oder der Bundesregierung. Das heißt, etwas stört ihn in der Türkei, was hier über türkische Beamte angeblich hineingetragen wird. Nur, was stört denn den Islamexperten so sehr an der Türkei, dass er diesen Kampf auch auf Deutschland überträgt?

Waren die türkischen Regierungen zuvor gegenüber Israel weniger zimperlich oder gab es mit Israel nicht den gleichen Ärger in Bezug zu Palästinensern und dem Nahost-Konflikt? Darf ein Land, das Israel als eines der ersten Länder der Welt anerkannte, einen mittelbaren Nachbarn und Partner nicht scharf verurteilen? Warum distanzierten sich frühere türkische Regierungen nicht von der HAMAS oder der PLO, bezeichneten sie nicht als Terrororganisationen? Vielleicht deshalb, weil die israelischen Regierungen die völkisch-kurdische PKK bis heute nicht als Terrororganisation anerkennen wollen und stets als Steigbügelhalter verwendeten, wie zuletzt Benjamin Netanjahu, der erklärte, er unterstütze die PKK in Nordsyrien gegen die Türkei?

Güvercin meint in einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger, dass die Desinformation und Einflussnahme der Türkei seit einigen Jahren anhalte und der religionspolitische Einfluss über die Ditib erfolge. Dem müsse man etwas entgegensetzen, so Eren Güvercin. Die Einflussnahme wird über das Staatsbürgerprinzip ausgeübt oder darf inzwischen kein Land der Welt in Deutschland seinen Erziehungsauftrag über ihre Zöglinge wahrnehmen? Wenn dem so ist, sollte Deutschland doch vorausgehen und Schulen sowie Kirchen für seine eigenen Staatsbürger in der Türkei ganz einfach schließen.

Etwas entgegensetzen bedeutet für Güvercin ferner, sich für Muslime in diesem Sinne fremdzuschämen, weil die islamischen Organisationen nicht ohne "wenn" und "aber" auf drei Spalier und der Bundesregierung Rede und Antwort stehen. Sprich, die HAMAS als solches zu bezeichnen und vollumfänglich zu verurteilen. Pardon, aber seit wann brauchen Türken und Muslime eine Bedienungsanleitung für das Dasein als Mensch mit Vernunft und Gefühl? Die halbe Weltkugel fiebert mit, nicht etwa für die israelischen Opfer vom 7. Oktober, sondern für die gegenwärtig täglich gezählten Opfer im Gazastreifen und in Westjordanland.

Darum geht es doch, um aktuelle Geschehnisse, die die Welt beschäftigt. Deshalb haben die zwei größten türkisch-islamischen Organisationen schon viel zu viel gesagt. Sie forderten in kurzer und prägnanter Form die Parteien auf, auf Gewalt zu verzichten, Zivilisten zu verschonen. Ferner forderte man Dritte auf, sich für eine Waffenruhe zwischen den Konfliktparteien einzusetzen. Sprich, völlig wertefrei, faktenbasiert und ohne politisch irgendwo anzuecken, mit dem einzigen Ziel, Zivilisten zu retten, die aufgeladene Stimmung in Deutschland zu besänftigen. Sie haben im Grunde das wiedergegeben, was die Vereinten Nationen, unzählige internationale Organisationen und der islamische Glaube derzeit fordert: Tötet keinen Menschen, sonst tötet ihr die Menschheit!

Aber für Eren Güvercin ist das unzureichend, auch dann, wenn die Ditib oder IGMG sich in der Kölner Synagogengemeinde treffen und ihre Solidarität mit den Opfern bereits bekundet haben. Das sei Augenwischerei, erklärt Güvercin trotzig und deutet auf Ali Erbas, den Vorsitzenden der Religionsbehörde DIYANET in der Türkei. Trotz ist im übrigem auch ein Merkmal von Murat Kayman, der inzwischen eine Antwort auf Bülent Ucars heftige Kritik veröffentlicht hat.

Güvercin wirft Ali Erbas ebenfalls vor, ein "antisemitischer Hetzer" zu sein, weil er in seinen Reden die Gewalt der israelischen Regierung in Verbindung mit Zionismus verurteilt hat; wie so viele Religionsoberhäupter in der Welt, darunter der anglikanische Erzbischof von Jerusalem, Hosam Naoum, der sogar von einem inhumanem, schrecklichem Ausmaß der israelischen Gewalt sprach. Wo legen wir dann die Oberrabbiner und Rabbiner, ja sogar Ärzte in Israel ab, die gemeinsam ihren Segen gaben, dass Krankenhäuser sehr wohl beschossen werden dürfen?

Ist der christliche Erzbischof in Jerusalem nun auch ein Antisemit, oder der Generalsekretär der Vereinten Nationen, vielleicht auch die WHO, die AI oder HRW? Wo auch immer man einen Maulwurf wahrgenommen haben will, der angeblich Antisemitismus betreibt, nur weil er die israelische Regierung, dessen Vorgehen verurteilt oder kritisiert, ja sogar überhaupt keine Meinung dazu verliert, der wird wie beim Whac-A-Mole von dieser Blockwartmentalität sofort in Angriff genommen. Ob es stimmt oder nicht, diese Frage stellt sich für sie erst nicht. Es geht um die Nadel im Heuhaufen, nicht um das Heu drum rum, dass in Flammen steht.

Und dann wirft Eren Güvercin nach; von Ultranationalismus der Palästinenser bis hin zur Religion, damit profiliere sich die HAMAS, um ihre "antisemitischen Vernichtungsphantasien" auszuleben. Dabei geht es letztendlich um die Befreiung besetzter palästinensischer Gebiete, die seit Jahrzehnten unter israelischer Besatzung stehen. Das sagen ja nicht die Türken und Muslime, sondern etliche Resolutionen der Vereinten Nationen. Dabei ist die Verteidigung und Sicherung der Souveränität und Einheit des palästinensischen Volkes ein völkerrechtlich verbrieftes Recht, sich von Besatzern auch mit Gewaltanwendung zu befreien, wie die Ukraine versucht die Russen aus ihrem Territorium mit Gewalt zu befreien. Selbstverständlich hat auch Israel sein verbrieftes Existenzrecht, aber in den Grenzen die von den Vereinten Nationen gezeichnet wurden.

Völkerrechtlich betrachtet hat sich Israel mit der Besetzung von palästinensischen Gebieten ausserdem automatisch verpflichtet, die Zivilisten darin mitzubeschützen; nicht nur die eigene Zivilbevölkerung, sondern auch und vor allem die palästinensische Bevölkerung in okkupierten Gebieten. So wie Deutschland für die Bürger im Land verantwortlich ist, ungeachtet dessen Herkunft, Religion oder Ideologie, so ist auch Israel als Besatzungsmacht verpflichtet, sich für die Sicherheit der Palästinenser einzusetzen.

Nun, offensichtlich nahm die israelische Regierung diese Verpflichtung seit Jahrzehnten nicht so ernst und gegenwärtig erst recht nicht. Besonders nach dem 7. Oktober, ist es für über 10.000 tote Zivilisten verantwortlich, darunter über 4.000 tote Kinder, was immer mehr Historiker und Juristen bestätigen. Glaubt irgendeiner, Eren Güvercin oder Murat Kayman hätten sich nach einem bestimmten Stichtag auch nur ein einziges Mal für diese zivilen Opfer innerhalb des Gazastreifens geäußert und Israel scharf verurteilt, ja sogar von Völkermord gesprochen? Weshalb sieht sich Güvercin dann in der Pflicht, uns Türken und Muslime unter die Nase zu reiben, was wir gefälligst tun und lassen müssen?

Vielleicht sollte die israelische Regierung sich zuerst bemühen, sich wie Besatzer zu benehmen, statt Siedlern Sturmgewehre in die Hand zu drücken und dabei behilflich zu sein, Palästinenser, ja sogar Armenier, Aramäer oder Christen allgemein, in ihrem Kontrollbereich aus ihren Häusern und Höfen zu vertreiben. Vielleicht nimmt die israelische Regierung das Völkerrecht auch ernst und erschießt nicht jeden dahergelaufenen Palästinenser, nur weil er auf der Stirn HAMAS gelesen haben will oder der Finger am Abzug juckte?

Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass die hiesigen Palästinenser ihre Ohnmacht und Frust von über 75 Jahren Besatzungszeit jetzt erst auf die Straßen übertragen, wobei sie vor Wochen noch mit Verboten und Verhaftungen daran gehindert wurden. Die deutsche Bundesregierung wollte sie offenbar madig machen, musste aber dem Grundgesetz dann doch Vorrang einräumen. Besonders skurril empfand ich sogar den Auftritt einer älteren jüdischen Dame in Berlin, die von der Polizei abgeführt wurde, weil sie lediglich still und leise ein Schild vor sich her trug, die Eren Güvercin in Schnappatmung versetzt hätte. Da ist es verständlich, wenn Güvercin plump über die Rede von Recep Tayyip Erdoğan stolpert, der wörtlich erklärte, die HAMAS sei "keine Terrororganisation, sondern eine Widerstandsgruppe." Das heißt, die türkische Regierung betrachtet die HAMAS als Souverän der Palästinenser im Gazastreifen und behandelt sie so.

In einem gebe ich Eren Güvercin jedoch eingeschränkt recht, und das ist auch das Einzige, was er in den Raum werfen kann, die ich teile: Das Handeln der HAMAS am 7. Oktober, das war terroristischer Natur, so wie der Angriff der israelischen Armee bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt unverhältnismäßig ist und dem Völkerrecht eklatant in allen Punkten widerspricht. Kann das Eren Güvercin äußern? Wohl kaum!

Das eine hebt die Verantwortung des anderen nicht auf; gilt im übrigem auch für die Diskursteilnehmer. Wenn die HAMAS mit terroristischen Aktivitäten auf sich aufmerksam macht, so kann sich die israelische Regierung nicht darauf berufen, um im Gegenzug mit unverhältnismäßigen Mitteln die Tötung von Zivilisten in Kauf zu nehmen, Krankenhäuser zu bombardieren oder von Nahrungsmitteln, Energieträgern und Wasser abzuschneiden. Das ist ebenfalls terroristischer Natur und mit nichts zu rechtfertigen.

Glaubt einer, Eren Güvercin hätte jemals die exzessive Gewalt der israelischen Regierung seit dem 7. Oktober auch nur im Ansatz scharf verurteilt? Hat Güvercin die ultranationalistisch-religiöse israelische Regierungskoalition als solches auch mal genannt und dessen Handeln verurteilt? Als jemand der wie eine Klette an Volker Beck hängt, kaum vorstellbar und auch real nicht zu erfassen. In seiner Timeline in sozialen Netzwerken traut sich der Bursche das nicht; schnell wäre er nämlich als Islamexperte in Deutschland eine Persona non grata. Und deshalb ist es gut, dass es die Vielfalt in Deutschland und damit eine andere Meinung gibt. Das muss die Demokratie aushalten oder ist Handlanger einer ultranationalistisch-religiösen Regierung, die für den Tod von über 10.000 Zivilisten verantwortlich ist. Deshalb gibt es die öffentliche Meinungsvielfalt, um auszuloten was falsch und richtig ist, an der sich die Politik orientieren kann; nicht um Andersdenkenden vorzuschreiben, was sie zu Denken haben.

Zum Glück gibt es in der Welt noch andere Meinungen, die von Weltbürgern, Türken und Muslimen geteilt werden: dass der israelische Ministerpräsident Netanjahu dem Internationale Strafgerichtshof überstellt werden muss, um sich zu verantworten - wenns sein muss wie Wladimir Putin verhaftet und dem Gericht zugeführt wird. Dafür setzt sich nun auch ein französischer Rechtsanwalt namens Juan Branco ein, der alle Palästinenser mit doppelter Staatsbürgerschaft als Opfer von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie deren Familienangehörigen unentgeltlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vertreten will. Offensichtlich sieht die Weltgemeinschaft mehr, als Eren Güvercin oder Murat Kayman es sich eingestehen wollen.

Es geht nämlich nicht mehr um den Terror der HAMAS, sondern ausschließlich um Kriegsverbrechen der israelischen Regierung. Die HAMAS hat folglich die Deutungshoheit gewonnen, und damit auch eine weitere Schlacht. Je länger dieser Konflikt nämlich andauernd und je mehr Zivilisten getötet werden, desto mehr gewinnt die HAMAS die öffentliche Meinung der Weltgemeinschaft. Und das ist die eigentliche Tragödie. 
 

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