Gaza-Konflikt: Der deutsche Rechtsstaat ist überfordert

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Die Kommentare und Meinungen von gestandenen Journalisten und Journalistinnen in Deutschland in Zusammenhang mit dem Gaza-Konflikt zeigen eindrucksvoll, wie undifferenziert der Nah-Ost-Konflikt im Westen perzipiert wird - und wie problematisch der Satz "Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson" auch unter rechtlichen Gesichtspunkten ist. Zunächst einmal und völlig unaufgeregt: niemand, der einigermaßen alle Sinne beisammen hat, wird die gezielten Angriffe der Hamas auf israelische Zivilisten vom 7. Oktober verteidigen, die aus dem Gazastreifen heraus eine Operation durchführten. Das war Terrorismus. Punkt!

Was ist aber mit palästinensischen Angriffen auf militärische Ziele? Ich weiß, allzu oft sind Feststellungen, denen ein "Aber" folgt, nichts weiter als rhetorische Floskeln, mit denen man das Gegenteil dessen zum Ausdruck bringen möchte, als in der Feststellung getroffen. Nur gibt es hier nach dem "Punkt" tatsächlich ein gewichtiges "Aber".

Israel als Besatzungsmacht über palästinensische Gebiete

Israel ist - auch nach offizieller Lesart der westlichen Staaten - Besatzungsmacht über palästinensische Gebiete im Sinne des humanitären Völkerrechts, i.e. der Genfer Konvention. Das ist keine unverbindliche Privatmeinung, sondern wurde wiederholt rechtsverbindlich in etlichen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates seit 1967 bestätigt und ist - wie erwähnt - auch von der Bundesregierung offiziell geteiltes Verständnis.

Ein Besatzungszustand ist Teil des Kriegszustands. Man kann zwar per Waffenstillstandsvereinbarung zwischen den Parteien ein Aussetzen von Gewaltanwendung vereinbaren und einen Besatzungszustand so ausgestalten, dass es einem fast schon so wie Frieden vorkommt, aber dadurch wird das Recht von Besetzten, sich gegebenenfalls wieder mit der Waffe einer Besatzung zu entledigen, nicht negiert. Will heißen: kein Recht der Welt kann einem Menschen untersagen, gegen die Besatzung seiner Heimat zur Not auch mit Gewalt zu kämpfen. Es gibt ein verbrieftes Recht auf bewaffneten Widerstand, das natürlich den gleichen rechtlichen Rahmenbedingungen unterworfen ist, wie sie für alle Kriegshandlungen gelten.

Die Grenze zu terroristischen Kriegsverbrechen überschreitet derjenige, der gezielt nicht-militärische Ziele ins Visier nimmt. Um am Beispiel des 7. Oktober zu bleiben: Die Morde auf dem Festival, die Angriffe auf Zivilisten in den Dörfern und Städten waren Terrorismus - der Angriff auf den Militärstützpunkt als Teil jener Struktur, mit der die Blockade über Gaza gesichert wird, war es nicht.  

Nun kommt aber die Crux an der Konstellation und das Dilemma, in das man sich in Deutschland durch die Undifferenziertheit der eigenen Haltung manövriert: wenn es ein verbrieftes internationales Recht der Palästinenser auf bewaffneten Widerstand gibt, kann ein demokratischer Rechtsstaat niemandem verbieten, zu bekunden, dass man sich ein Obsiegen der Besetzten über die Besatzer wünscht. Da Palästinenser und Israelis Kriegsgegner sind, ist jede Parteinahme zugunsten des Einen zugleich auch eine Haltung gegen den Anderen.

Als politischer Akteur auf internationaler Bühne kann Deutschland natürlich selber Partei sein. Es kann diese Solidarisierung aber nicht den Menschen auferlegen, die im Geltungsbereich des Grundgesetzes leben. Verbieten kann man all das, was terroristische Verbrechen rechtfertigt oder explizite Bekundungen zugunsten von Organisationen wie der Hamas, die man als terroristisch einstuft. Nicht aber den Ausdruck einer Parteinahme in diesem Konflikt für die eine oder andere Seite.

Unverbrüchliche Solidarität mit Israel?

Wenn sich Deutschland zum einen in unverbrüchlicher Solidarität mit Israel erklärt, Sicherheit und Existenz Israels zur deutschen Staatsräson erhebt; zum anderen aber Israels Selbstwahrnehmung widerspricht, in dem man Israel ganz offiziell als Besatzungsmacht betrachtet,... wie nennt man das? Schizophrenie?

Die Völkerrechtsexperten im Auswärtigen Amt* haben beizeiten Expertisen verfasst, in denen dringlichst davon abgeraten wurde, dass deutsche Diplomaten auch nur einen Fuß auf die Krim setzen, da man derlei als Akt impliziter Anerkennung russischer Annexionsansprüche auslegen könne.

Auf der anderen Seite tingeln das Kabinett seit der Merkel-Ära regelmäßig in geschlossener Mannschaftsstärke nach Jerusalem, dessen Annexion man ebenfalls als völkerrechtswidrig zurückweist und das Jerusalemgesetz, mit dem Jerusalem zur ewigen und unteilbaren Hauptstadt Israels erklärt wird, gemäß Resolution 478 des UN-Sicherheitsrates als "null und nichtig" ablehnt.

Diese offizielle völkerrechtliche Positionierung im Nah-Ost-Konflikt steht im elementaren Widerspruch zu den neuralgischsten Aspekten des israelischen Selbstverständnisses, während sich Deutschland politisch in bedingungsloser Solidarität übt. Wie passt das zusammen? Man betrachtet - wie der Rest der Welt - die israelische Siedlungspolitik offiziell als Kriegsverbrechen. Was bedeutet diese politische Solidarisierung für die eigene offizielle rechtliche Positionierung?

Völkerrechtlerin Annalena Baerbock

Anna - "ich komme ja aus dem Völkerrecht" - Baerbock, versuchen Sie sich endlich dem Kadavergehorsam zu entziehen und beteiligen Sie sich an einer gerade Fahrt aufnehmenden internationalen Initiative, die die verfahrene Situation ins positive wenden und einen Friedensprozess auf der Grundlage einer Zwei-Staaten-Lösung in den Grenzen von 1967 wiederbeleben will.

Das hat aber nur eine Chance, wenn man im Westen - in Staaten wie Deutschland, den USA - die Zwei-Staaten-Lösung nicht nur als unverbindliches politisches Lippenbekenntnis in Sonntagsreden verteidigt, darüber hinaus aber einem seit Jahrzehnten anhaltenden Rechtsbruch der Besatzungsmacht mit Annexionen und landräuberischer Siedlungspolitik den Rücken frei hält. Deutschland ist es, die es einer Besatzungsmacht seit Jahrzehnten erlaubt, mit den von ihnen Besetzten im rechtsfreien Raum zu interagieren. Wo kein Recht, da Willkür, da Gewalt. So einfach...

*) Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Road Map für den Nahen Osten, Nr. 09/2004
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Der Nahostkonflikt; Geschichte und aktuelle Situation; Ausarbeitung, WD 2 - 133/06
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Zur Zulässigkeit zivilen Ungehorsams gegen militärische Besatzung aus völkerrechtlicher Sicht, WD 2 – 3000 - 029/10
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Zur Zulässigkeit einer Seeblockade im internationalen bewaffneten Konflikt, WD 2 – 3000 – 116/10
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Zum Status Palästinas in den Vereinten Nationen, WD 2 – 3010 – 178/11
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Zur völkerrechtlichen Einordnung der vier israelisch-arabischen Kriege 1948-1973, WD 2 – 3000 – 165/12
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Die Siedlungs- und Wohnungsbaupolitik der israelischen Regierungen seit 1967 in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes und Ost-Jerusalem; Fakten und völkerrechtliche Einschätzung, WD 2 - 3000 - 026/17
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Zur Staatenlosigkeit von Palästinensern und zur Anerkennung Palästinas und der von seinen Behörden ausgegebenen Reisedokumente, WD 2 - 3000 - 057/18
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Zur völkerrechtlichen Anerkennung Palästinas, WD 2 – 3000 - 009/19
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Ansätze/Modelle einer Zwei-Staaten-Lösung im Israelisch-Palästinensischen Konflikt, WD 2 - 3000 - 020/20
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Der israelisch-palästinensische Konflikt von 1991 bis 2020, WD 2 - 3000 - 058/20
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Israelische Annexionspläne des Westjordanlandes unter möglicher Berufung auf die Erklärung der VN-Generalversammlung von 2007 über die Rechte der indigenen Völker, WD 2 - 3000 - 060/20
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Zum Vorwurf der Apartheid-Politik Israels in den palästinensischen Gebieten, WD 2 - 3000 - 031/23
Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages - Völkerrechtliche Aspekte des Gaza-Konflikts vom Mai 2021, WD 2 – 3000 – 043/21