Es begann mit "One Minute", endete im Putschversuch

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Es sind genau 10 Jahre her, dass der brutale Putschversuch in der Türkei aus der Warte des Volkes betrachtet, zum Scheitern verurteilt war. Hunderttausende im Land, hatten sich den Putschisten der Fethullah Gülen -Sekte in den Weg gestellt, noch ehe Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sich an das Volk wendete. Hat sie auch die Kraft und den Mut, sich vereint in das nächste Jahrhundert aufzumachen?

Wie gefährlich der gescheiterte Putschversuch vom 15. auf den 16. Juli 2016 für die türkische Republik war, ist kaum zu erfassen. Dieser Putschversuch war tiefer und komplexer, und wird noch Jahrzehnte nachhallen. Denn, die Aufarbeitung der Verbrechen, die Verfolgung der Verbrecher, der Mut zu Veränderungen, diese sollten nicht bei loser Rhetorik bleiben...

Man sollte beispielsweise nicht vergessen, dass İsmet İnönüs Erklärungen von 1964 und 1974, „Eine neue Welt wird entstehen, die Türkei wird ihren Platz einnehmen“, und Bülent Ecevits „Sprung über die Mauer“, alle während des Kalten Krieges erfolgten. Die Umsetzung dieser Erklärungen gestaltete sich unter den geltenden Umständen jedoch schwierig, schlussendlich wurden auch keine nachhaltigen Anstrengungen in diese Richtung unternommen.

Entscheidungen erfordern Mut und Rückgrat gegenüber der Bevölkerung

Die Ereignisse nach dem "Nein" zum parlamentarischen Mandatsantrag in Zusammenhang mit dem Einsatz im Irak sowie der Stationierung von ausländischen Militärs vom 1. März 2003, fielen in eine Phase der Unsicherheit in den internationalen Beziehungen zusammen. Diese Zeit der Unsicherheit minderte jedoch nicht die geopolitische Bedeutung der Türkei; im Gegenteil, die Entwicklungen im Nahen Osten stärkten sie weiter. An diesem Punkt ist entscheidend, dass die Bedeutung der Geografie, in der sich die Türkei befindet, immanent ist. Diese Geografie, in ihrer klassischsten Definition, umfasst direkt den Balkan, das Schwarze Meer, den Kaukasus, den Nahen Osten und das östliche Mittelmeer. Geopolitik ist in ihrer prägnantesten Definition die Entwicklung und Umsetzung politischer Entscheidungen, die in einer bestimmten geografischen Region für die Sicherheit dieser Region und das Wohlergehen der dort lebenden Völker erforderlich sind.

In der Ära der republikanischen Politik war das Prinzip „Friede im Inland, Frieden in der Welt“ bis zu einem gewissen Punkt der geeignetste politische Rahmen für die kleinasiatische Region. Dieses Prinzip manifestierte sich in der Entwicklung von Partnerschaften mit allen Staaten, insbesondere den Nachbarländern, der Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten und der Weigerung, auch nur annähernd imperiale Ambitionen der Vergangenheit zu verfolgen. Die Türkei wurde Mitglied des Westens, nachdem sie nach 1946 den Übergang zur Mehrparteiendemokratie vollzogen und Mitglied der Vereinten Nationen geworden war, Gründungsmitglied des Europarats wurde und 1952 der NATO beitrat. Trotz der Krisen, die sie erlebte, diskutierte die Türkei diese Zugehörigkeit über bloße Rhetorik hinaus nie ernsthaft. Diese Einschätzung galt bis zuletzt auch für die Ära der AKP unter Recep Tayyip Erdoğan.

Proteste auf dem Gezi-Park von 2013

Ab den Protesten im Gezi-Park von 2013, änderte sich diese Haltung schlagartig. Ein zunehmendes Misstrauen breitete sich nicht nur in der Politik, sondern in der Gesellschaft aus. Nach diesem Ereignis waren die Beziehungen zur westlichen Welt nie mehr dieselbe, es wurde sogar immer mehr vergiftet; mit dem anhaltenden Syrien-Konflikt (2011-2025) und der in Nordsyrien ausbreitenden Terrororganisation PKK; mit dem Scheitern des Friedensprozesses der PKK im Juli 2015; und mit der Operation "Schützengräben" zwischen August 2015 und März 2016 gegen die PKK im Inland. Insbesondere diese Umstände führten dazu, dass die türkische Regierung zu einer anderen Interpretation der Doktrin „Friede im Inland, Frieden in der Welt“ kam.

Später vertieften weitere Krisen und mutmaßliche Affären, vor allem aber der Putschversuch der FETÖ vom 15. Juli 2016 dieses Misstrauen gegenüber dem Westen und den Vereinigten Staaten immens. Parallel dazu betrat Russland den Nahen Osten nach der Georgien-Krise, der Annexion der Krim und der Ukraine-Krise. Die strategische Verlagerung Russlands in den Beziehungen zur Türkei, wurde sichtbar und erhöhte zugleich den Druck auf das kleinasiatische Kernland.

Die Veränderungen, die den Nahen Osten und insbesondere die Türkei betreffen, vor allem aber die Entwicklungen nach der US-amerikanischen Invasion im Irak ohne die türkische Beteiligung, die unterschiedlichen Herangehensweisen in Zusammenhang mit dem syrischen Bürgerkrieg, das Ende der Friedensinitiative mit der Terrororganisation PKK und die Rhetorik der türkischen Regierung allgemein, zeigen deutlich, wie das Gesamtklima in Ankara gegenüber Washington und den europäischen Hauptstädten war und bis heute so geblieben ist.

Die Lage ist derart komplex geworden, dass die Beziehungen der Türkei zum Westen nur noch als Zweckbündnis zu deuten sind. Zwischen der Normalisierung der Türkei und den USA stehen vor allem nach dem gescheiterten Putschversuch die Führer der Fethullah Gülen-Bewegung und der engste Kreis dessen im Wege. Aus Sicht Washingtons war bis zum Ableben von Fethullah Gülen, dieser ein hoch angesehener Sektenanführer, und sein engster Kreis sind weiterhin US-Staatsbürger. Aus der Warte der Türkei betrachtet, handelt es sich allesamt um Landesverräter, um Terroristen und Verbrecher.

Der Fall Metin Topuz und einem weiteren Staatsbürger, die für das US-Konsulat arbeiteten, rundeten das Gesamtbild ab, das Ankara von Washington gewonnen hatte und zu Gegenmaßnahmen bewegte. Obwohl Topuz, ein türkischer Staatsbürger, für eine diplomatische Mission tätig war, stand seiner Verhaftung nach nationalem wie internationalem Recht nichts im Wege. Die US-Seite gab jedoch laufend Erklärungen ab, die darauf hindeuteten, dass Topuz seiner gesetzlichen Rechte beraubt worden sei. Auch die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara schaltete sich schließlich hierzu ein und erklärte: „Es gibt keinen Anspruch auf Familienbesuchsrecht.“ Da fand sprichwörtlich ein psychologischer Krieg zwischen zwei Staaten statt. Was auch immer der Grund sein mag, diese beispiellosen Maßnahmen, die türkische Bürger direkt betraf, hatte zweifellos einen neuen Riss in den Beziehungen verursacht.

Der Platz der Türkei in der Neuen Welt

Die alte Weltordnung ist zweifellos vorbei. Mit Henry Kissingers Worten: "wir befinden uns in einer chaotischen Zeit." Obwohl derzeit noch nicht bekannt ist, wie die neue Ordnung aussehen wird, gibt es einige wichtige Hinweise. Anzeichen dafür gab es bereits unter US-Präsident Obama, aber unter Trump wurde es noch deutlicher. Der Kern der Strategie ist folgender: Die USA scheinen freiwillig globale Verantwortung und Führung abgeben zu wollen. Sie wollen keine dauerhaften Allianzen mehr. Tritt eine Bedrohung auf, versuchen sie, diese – aufgrund des Traumas der Irak-Invasion – ohne eigenes militärisches Engagement zu bekämpfen, indem sie lediglich einem oder wenigen vorübergehenden Verbündeten, die sich vor Ort freiwillig melden, Waffen und Ausbildung zur Verfügung stellen.

In den kommenden Jahrzehnten wird sich China mit seinem „One Belt, One Road“-Projekt von Shanghai über Eurasien bis nach Europa erstrecken. Diesen Entwicklungen steht die Russische Föderation gegenüber, die durch Petrodiplomatie und der hybriden Kriegsfähigkeiten sich neue strategische Vorteile zu verschaffen sucht. Und die EU, die diesen Entwicklungen vorerst nur zusieht und nicht wirklich eine Zukunftsstrategie vorzuweisen hat, ist seinen einzigen Mitglied mit globaler Vision, Großbritannien, los. Zudem werden bedeutende Regionalmächte unterschiedlicher Größe, wie beispielsweise die Türkei, zwangsläufig mit im Spiel sein.

Es gibt noch keine Anzeichen dafür, wie eine solche Weltordnung aussieht und funktionieren wird. Wir befinden uns aber auch in einer Übergangsphase. Solche Übergangsphasen, in denen Stabilität verloren geht und Bündnisverpflichtungen in Frage gestellt werden, sind zweifellos voller Stolpersteine und mit entsprechenden Gefahren verbunden. Aus dieser Perspektive betrachtet sind drei Punkte für die Türkei entscheidend: die ideologischen, konfessionellen und ethnischen Bruchlinien im Inneren müssen minimiert, wenn nicht gar vollständig beseitigt werden; neue Freundschaften und Allianzen sind zu knüpfen und gleichzeitig bestehende Allianzen zu stärken; und letztlich ist zu verhindern, dass die Türkei zu einer Kampfarena um Einfluss zwischen Großmächten verkommt.

Der letzte Punkt ist besonders wichtig: man muss die Allianzen auf den Prüfstand bringen, jedoch nicht um jeden Preis verlassen, gepaart mit unvorhergesehenen Entwicklungen, die einen solchen Kampf entfachen könnten. Es gibt zwei Schlüsselelemente, die die Türkei in dieser gefährlichen Zeit als Leuchtfeuer dienen und leiten werden: Erstens, die über 75 Jahre hart erkämpften pluralistischen demokratischen Errungenschaften; und zweitens, die Zahl der Freunde in der Region, bei denen man die traditionellen diplomatischen Ressourcen in vollem Umfang pflegt.

Freund oder Feind?

Eine übermäßige Schwächung, z. B. der Barzanis im Nordirak, hätte der PKK genutzt. Heute wissen wir, dass die Beziehungen zu Barzani mit ein Schlüssel zum Erfolg war, die PKK zur Aufgabe zu zwingen. Derzeit scheint die Türkei auf der Seite Teherans und Bagdads zu stehen. Vergessen wir aber nicht, dass Bagdad unter der Kontrolle Teherans steht. Die Revolutionsgarde, die Hisbollah und die schiitischen Kräfte der Hashd al-Shaabi wüten nicht nur im Irak, sondern wüteten bis vor kurzem in ganz Syrien. Der Iran hingegen hatte bekanntermaßen mit der PJAK (PKK) eine Vereinbarung zur Einstellung terroristischer Aktivitäten getroffen. Im Gegenzug sollten die Revolutionsgarde und die Hashd al-Shaabi die PYD, insbesondere in Syrien, in Ruhe lassen. Irans traditionelle Kurdenpolitik basiert darauf, gleichzeitig Freund und Feind aller kurdischen Organisationen zu sein. Gegenwärtig wird die PJAK von Teheran jedoch wieder verfolgt.

Die extreme Schwächung Barzanis im Nordirak hätte der PKK direkt in die Hände gespielt. Ihre Ideologie, die eher auf Klassen- als auf Stammeszugehörigkeit basiert, hätte sich mit der Zeit – einhergehend mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten – weiter durchgesetzt. Die Kirkuk-Frage ist noch problematischer. Die vollständige Kontrolle durch Bagdad würde indirekt eine Kontrolle durch den Iran bedeuten. Ein multiethnischer Autonomiestatus war und ist für die Türkei daher von entscheidender Bedeutung. Diese Frage erforderte eine langfristige Perspektive, nicht nur eine gegenwärtige.

Die nächstgrößere Herausforderung für die türkisch-amerikanischen Beziehungen bleibt weiterhin die Zukunft Syriens, die Rolle der PYD in dieser Zukunft und ihrer mutmaßlich 60.000 Mann starken Organisation namens SDF bzw. YPG. Diese Situation sollte als Realität betrachtet werden, die im schlimmsten Fall nicht rückgängig gemacht werden kann. Die Türkei muss weiterhin alle zukünftigen Überlegungen und Entscheidungen zwangsläufig unter Berücksichtigung dieser Realitäten treffen.

In seiner drastischsten Form scheint der Türkei zwei Wege offenzustehen: entweder eine blutige Auseinandersetzung oder eine friedliche Lösung, bei der die Vernunft siegt. Eine blutige Auseinandersetzung würde die Zukunft der Türkei beeinträchtigen, und ihre verheerenden Folgen wären unvorhersehbar. Die Grenzen und die territoriale Integrität der Türkei sind heilig. Die Türkei hat kürzlich die mutigsten und wichtigsten Schritte in ihrer Geschichte zur Lösung der PKK-Frage unternommen, was einer friedlichen Lösung gleichkommt.  

Angelegenheiten außerhalb der türkischen Grenze sollten nach dem gegenwärtigen und beendetem Regulierungsprozess das Problem der Nachbarländer bleiben. Die historische Einheit der Türkei sollte heilig bleiben. Während der Republik gab es noch das „Passavant“-System. Damals bestellten Landbesitzer tagsüber ihre Felder und überquerten nachts mit einem Passavant die Grenze, um nach Hause zu gelangen. Man kann sich durchaus ein Szenario vorstellen, in dem Anziehungspunkte entlang der türkischen Grenze, kombiniert mit dem Öl des Südens und dem Geschäftssinn der Türkei, den Menschen auf beiden Seiten Wohlstand bringen würde.

Es liegt jedoch in der Verantwortung aller in der Türkei, den Horizont der Türkei zu erweitern und ihre angesammelte Energie in positive Bahnen zu lenken. Das wichtigste Ziel sollte sein, Feindseligkeiten mit den Menschen unmittelbar hinter den Grenzen zu vermeiden, sie nicht dem Einfluss ausländischer Mächte auszusetzen und die Kräfte nicht zu vergeuden. Die Türkei von 2025 hat nach dem gescheiterten Putschversuch die Möglichkeit, die dafür notwendigen Strategien zu entwickeln, und sie verfügt über die Fähigkeit dazu, es auch umzusetzen.