Wer hier AKP wählt ist grundsätzlich was, Herr Levent Taşkıran?

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Levent Taşkıran, Präsident des Vereins türkischer Studenten und des Vereins türkischer Akademiker in Köln, wurde vom Magazin Cicero interviewt. Meinem Empfinden nach liest sich das Interview wie ein Rundumschlag eines türkischen Wählers, der nach dem türkischen Wahldebakel die Gewinner sowie deren Wähler an den Pranger stellt. Dieselben Zeilen dazwischen, könnte man auch aus dem Munde zahlreicher deutscher Persönlichkeiten wie auch Haustürken in deutschen Berichterstattungen erhaschen.

Für mein Dafürhalten ist das eine Reaktion auf das Wahldebakel selbst, etwas, was dem harten Wahlkampfgetöse geschuldet ist, und dem abgehobenen, völlig verkorksten Wahlkampf des Oppositionsbündnisses - allen voran der CHP. Aber befassen wir uns zunächst mit dem Interview selbst.

Zunächst einmal beobachtet Taşkıran das "Erstarken islamistischer Bruderschaften, die gute Vernetzung der aus der Türkei gesteuerten Moscheen und AKP-naher Funktionäre" mit großer Sorge. Mit "islamistischer Bruderschaften" meint er offensichtlich religiöse Gruppe innerhalb des islamischen Spektrums, die in der Türkei ihre Religionsfreiheit genießen - so wie Mormonen in den USA. Mormonen legen oft das Erbe der Pioniere in den Vordergrund, wie auch manche religiösen Gemeinschaften in der Türkei das Erbe der Osmanen bzw. ihrer damaligen Geistlichen betonen. Mormonen werden in den USA aufgrund ihrer universellen Freiheiten nicht behelligt, aber in der Türkei sollen Religionsgemeinschaften behindert werden? Was könnte also der Grund sein, in einem Interview von Islamismus und Bruderschaften zu sprechen? Offenbar an den bereits negativ behafteten Etikettierungen, die in Deutschland seit einiger Zeit geläufig sind und hiesige Religionsgemeinschaften selbst negativ betreffen.

Viele "Analysten", insbesondere auch jene vom oppositionellen Block, wundern sich jetzt über den auffälligen Zulauf, den die rechten und konservativen Parteien in der letzten Türkei-Wahl bekommen haben - unabhängig davon, ob sie im Oppositionsbündnis oder in der Regierungskoalition vertreten waren. Es hat aber eine ganz schlichte Erklärung. Die Angst vor der politischen Einflussnahme der Terrororganisation PKK sowie der FETÖ auf die Politik und die seit Jahren betriebene Hetze gegen Flüchtlinge - also nicht so sehr die sogenannten "Bruderschaften". Und wer die politische Entwicklung der letzten Jahre in der Türkei verfolgt hat, der weiß, dass in beiden Fällen der von der CHP angeführte Oppositionsbündnis eine wesentliche Rolle dabei gespielt hat. Denn während man ganz unverblümt versucht hat, die in der Bevölkerung verhassten Terrororganisationen zu rehabilitieren, hat man Religionsgemeinschaften sowie Flüchtlinge als "politisches Instrument" gegen die Regierung entdeckt und betreibt seit Jahren massive Hetze gegen diese Etiketten.

Die früher kemalistische, heute eher profillose CHP, hatte sich davon wie schon zuvor die Erschließung neuer Wählerschichten versprochen. Zum einen wollte man PKK-nahe Wähler ansprechen, zum anderen nationalistische Regierungsgegner. Doch beide sich widersprechende und verfeindete Lager unter dem Dach der CHP zu vereinen, war von Anfang an ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen gewesen - und das nicht zum ersten Mal. Die erhofften Stimmen kamen nicht zur CHP, sondern zu Parteien, die diese Ideologien selbständig verkörperten. Damit sorgte man auch für einen Rechtsruck innerhalb der AKP, die damit dieser Entwicklung den Wind aus den Segeln nehmen wollte.

Es gibt sehr viele Themen, bei der die Opposition hätte ansetzen können, aber die denkbar schlechtesten wurden als "strategische Wahlkampfthemen" ausgesucht. Jetzt spielen die rechten Parteien eine größere Rolle in der türkischen Politik und haben sich aufgeteilt in den Oppositions- und Regierungsblock. Sie haben also mehr Einfluss in beiden Lagern als zuvor. Im CHP-Lager sehen sie sich in der Rolle, den Einfluss der PKK im eigenen Oppositionsblock einzudämmen, im AKP-Lager, in der Rolle, für eine restriktivere Flüchtlingspolitik zu sorgen.

Die konservative AKP kann sich in der Not mit einer restriktiveren Flüchtlingspolitik jedoch arrangieren, aber bei der CHP ist die Zusammenarbeit - u. a. mit dem politischen Arm der PKK - stets ein über ihrem Kopf schwebendes Damoklesschwert. Bei politischen Entscheidungen im Kampf gegen die PKK (wie zum Beispiel Truppenstationierungen in Nordsyrien) werden die rechten Parteien trotz ihrer oppositionellen Haltung, die Regierung unterstützen. Wer nach großen strategischen Fehler sucht, sollte hier beginnen und nicht bei der Regierungskoalition suchen.

Eingangs erwähnt Levent Taşkıran, dass er Hoffnungen hegte, "dass nach 20 Jahren AKP eine politische Kehrtwende eingeläutet wird und die Menschen, auch insbesondere die Opposition mit ihren sechs Bündnisparteien das Land nach ihren Vorstellungen gestalten dürfen." Mehr politische Selbstbestimmung und mehr Demokratie im Land hätten auch der Wirtschaft gutgetan, "da das Präsidialsystem der Türkei nicht kompatibel mit den wirtschaftlichen Strukturen im Lande ist, was man ja heute an der Inflation und der schlechten Wirtschaftspolitik" sehr gut erkenne.

Die Türken hatten schon immer eine besondere Sensibilität, wenn es um Wahlen geht. Unsere Stimme ist uns heilig. Daraus erklärt sich auch die konstant hohe Wahlbeteiligung, die sich seit Jahrzehnten bei allen Wahlen zwischen 80 und 95 Prozent bewegt. Entsprechend groß ist deshalb auch der Informationsdurst und die Neugier. Diese wurde überaus gut befriedigt, was das Wahlergebnis ja widerspiegelt.

Hoffnungen hegen ist gut, aber wenn eine ganze Armada von überwiegend oppositionsnahen sogenannten "Meinungsforschungsinstituten" - in Wahrheit direkt den Parteizentralen unterstellte PR-Institute - sich seit Monaten mit völlig abgehobenen Prognosen überbieten, in denen ihr Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu mit bis zu zehn Prozentpunkten vor Erdoğan liegt, dann ist eine Niederlage ein Schlag ins Gesicht derer, die Hoffnungen hegten und diesem Schwindel erlagen. Nüchterne Betrachter der türkischen Politik, wie der Umfrageinstitutsleiter Hakan Bayrakçı hatten das Wahlergebnis vom Sonntag bereits am 3. Mai mit einer Abweichung von 0,6 bzw. 0,8 Prozent prognostiziert. Bayrakçı hatte 48,9 Prozent für Erdoğan und 44,1 für Kılıçdaroğlu ermittelt und dabei eine Toleranz von plus-minus 1,5 Prozent angegeben. Aber wenn Oppositionsanhänger lieber in einer Blase informiert werden wollen, ist das Ergebnis in ihrer Konsequenz umso härter. Übrigens, dass ein politischer Wandel auch einen wirtschaftlichen Wandel hervorruft, ist ein klassischer Zirkelschluss.

Im Grunde hat die CHP selbst der Regierung eine überaus gute Position geschaffen. In dem es rechte und religiös-konservative Abgeordnete in das Boot aufnahm, um gemeinsam das Ruder zu übernehmen, können fortan Dank der "genialen" Strategie des CHP-Vorsitzenden, Mehrheiten zusammenkommen, die für Verfassungsänderungen notwendig sind. Dieses "Genie", das sich auch weiterhin weigert zurückzutreten, hat fast 40 Abgeordneten von Kleinstparteien, die aus Absplitterungen von Erdoğans AKP hervorgegangen sind und alle zusammen nicht einmal einen Prozentpunkt der Stimmen auf sich vereint hätten, den Einzug ins Parlament über die CHP-Listen ermöglicht.

Um mal die desaströse Wahlkampfstrategie der CHP anhand eines Beispiels des Journalisten Ismail Saymaz zu verdeutlichen: Die AKP will dem Beispiel Ungarns folgen und das klassische Familienbild von Mann und Frau verfassungsmäßig verankern und will ein Antidiskriminierungsgesetz verabschieden, dass Frauen vor Benachteiligung wegen ihrer Bekleidung schützen soll, wovon auch kopftuchtragende Frauen profitieren werden. Es ist klar, dass die CHP beide Vorhaben bei der Abstimmung ablehnen wird, aber genau durch jene nationalistische und konservative Abgeordnete, die als Bündnispartner über die Wahllisten der CHP in das türkische Parlament gewählt worden sind und die nun alle vereinbarungsgemäß aus der CHP ausgetreten, wieder in ihre ursprünglichen Parteien eingetreten sind, bekommt die Erdoğan-Allianz die benötigte 60-Prozent-Mehrheit für eine Verfassungsänderung im Parlament. Es wird für sehr unwahrscheinlich gehalten, dass sich diese oppositionellen Bündnisparteien gegen eine solche Verfassungsänderung entscheiden. Mit dem Plan, Abgeordnete der oppositionellen Kleinstparteien, die nicht mal zusammen ein Prozent der Wählerstimmen bekommen würden, über die eigenen CHP-Listen ins Parlament einzuschleusen, hat er nicht nur 35 Abgeordnete weniger, er hat auch für eine verfassungsmäßige Mehrheit für die Erdoğan-Allianz gesorgt - zumindest in Abstimmungen, bei der politische oder ideologische Schnittmengen beider Lager existieren.

"Die AKP hat mit sehr unfairen Methoden die Opposition kriminalisiert und den Präsidentschaftskandidaten, Herr Kılıçdaroğlu, sogar mit einem Fake-Video als PKK-Sympathisant diskreditiert."

Man kann am Ergebnis ablesen, dass die Strategie der informellen Kooperation mit der völkisch-kurdischen HDP bzw. der neu gegründeten Nachfolgepartei YSP aufgegangen ist. Ob das Fake-Video kriminell ist oder nicht, spielt in einem türkischen Wahlkampf keine Rolle, denn niemand hat sich dabei etwas geschenkt, auch nicht das Oppositionsbündnis. Im ersten Wahlgang konnte Kılıçdaroğlu überall dort, wo die HDP / YSP stärkste Kraft wurde, haushoch gegen Erdoğan gewinnen, teils mit weit über 70 Prozent - wohlgemerkt, in einem Gebiet, in dem die CHP traditionell nie einen Blumentopf gewinnen konnte und regelmäßig im einstelligen Prozentbereich rumzukrebsen pflegte. Niemand kann heute behaupten, die CHP habe nicht auf diese informelle Kooperation gesetzt bzw. keine stillen Vereinbarungen getroffen - zumindest was Kılıçdaroğlu angeht. Der CHP-Vorsitzende hatte ja ohne Kenntnis der Opposition, seiner Parteibasis und sogar der Parteispitze dem Vorsitzenden der Zafer Partei, Ümit Özdağ, Ministerposten versprochen und das erst aufgrund des medialen Drucks zugegeben.

Was bereits etliche deutsche Journalisten wie Michael Thumann da über die sogenannte gleichgeschaltete türkische Medienlandschaft geschrieben haben, gibt Levent Taşkıran erneut wieder. Das ist schlicht kontrafaktisch. Ich bin mir fast sicher: wenn man eine Auflistung der Medien in der Türkei vornimmt und sie nach Regierung und Opposition zuordnet, wird man ein Ergebnis erhalten, das zugunsten der Opposition ausfällt. Übrigens, die Einschaltquoten geben ebenfalls Auskunft darüber, wie stark das Oppositionsbündnis und die Regierungskoalition vertreten ist.

Der Grund ist recht einfach: jede relevantere politische Partei und jede politische Strömung im Land unterhält ein eigenes komplexes Medien-Netzwerk mit Zeitungen, Fernsehen, Social Media-Kanälen und vermeintlichen "Meinungsforschungsinstituten", die in Wahrheit nichts anderes sind als PR-Institute. Erst jüngst widerrief die CHP öffentlich einen Werksvertrag mit dem TV-Sender HALK TV. Offensichtlich berichtete der TV-Sender nach dem Wahldebakel nicht nach dem Willen des Oppositionsführers.

In der nunmehr 21-jährigen Regentschaft der AKP haben sich etliche Abspaltungen ergeben, die mittlerweile bei der Opposition gelandet sind. Die tiefe Spaltung der türkischen Gesellschaft ist in dieser Hinsicht weniger ideologisch, sondern machtpolitisch. Mittlerweile sind wir an einem Punkt, in der die Person Erdoğan selber der Spaltpilz ist. Bist Du für oder gegen Erdoğan? Das ist inzwischen die entscheidende Frage. Es ist vollkommen gleichgültig, ob Du Sozialdemokrat, Islamist oder Nationalist bist. Sowohl auf Seiten der Opposition als auch auf Seiten der Regierung haben sich bei diesen Wahlen Nationalisten, Islamisten und Sozialdemokraten/Sozialisten geschart. Vor allem sind sie die Fronten nicht starr, sondern fluktuierend. Diese Form der dynamischen und schwer in Form zu fassenden Spaltung wirkt sich auch auf die Medienlandschaft aus. Dass Erdoğan einen Großteil des türkischen Medienspektrums kontrolliere, ist schlicht und faktisch falsch.

Kemal Kılıçdaroğlu und die dahinterstehende verblendete Mentalität, demnach der Zweck - nämlich, dass Erdoğan weg müsse - alle Mittel heilige, hat deshalb auch ein Desaster angerichtet. Wo man auch hinschaut, nur noch Ruinen und eine Wählerschicht, die all ihrer Hoffnungen beraubt wurden. Alle Prinzipien, alle Ideale wurden über Bord geworfen, die in Medien lautstark hinausposaunt wurden. Insgeheime Kollaboration mit der kurdisch-separatistischen Bewegung, Kollaboration mit Putschisten und vor allem Rassisten in einem Jargon, das geradezu zum Fremdschämen ist und jeden deutschen Neonazi vor Neid erblassen lassen würde. Den Wählerwillen mit Füßen getreten, in dem er mit solchen Taschenspielertricks die politisch-weltanschauliche Ausrichtung des Parlaments massiv zum Nachteil seiner eigenen Partei verzerrt hat - zu Gunsten von Parteien, die ihre Wurzeln im politischen Islam haben. Und noch immer tritt dieser Mann, der die Macht in der CHP erst infolge einer kriminellen Intrige übernommen und seither jeden halbwegs national gesonnenen Kopf aus der Partei Atatürks heraus gemobbt hat, nicht zurück.

"Die Abschiebung von circa 14 Millionen Flüchtlingen, die illegal in die Türkei aus Ländern wie Afghanistan über den Iran und mit Hilfe des iranischen Geheimdienstes in die Türkei geschleust werden sowie die Millionen Syrer, die in der Türkei Zuflucht gefunden haben, sind das Ergebnis einer völlig falschen Außenpolitik und Sicherheitspolitik der AKP"

Die Mär über 13 Millionen illegaler Flüchtlinge in der Türkei setzte erstmals der Vorsitzende der Zafer Partei Ümit Özdağ in Szene, bis es innerhalb der Parteibasis auf über 14 Millionen aufgeplustert wurde. In der Konsequenz setzte auch der "sozialistische" Führer Kemal Kılıçdaroğlu auf dieses Pferd und gab im Wahlkampfgetöse an, er werde 10 Millionen Flüchtlinge nach Hause schicken. Laut den Vereinten Nationen leben aber nur 3,9 Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Der Großteil von ihnen stammt aus Syrien. Bleiben summa summarum 10,1 Millionen "illegaler Flüchtlinge" übrig, deren Verbleib unergründlich zu sein scheint. Vielleicht kann Levent Taşkıran ja noch einmal nachrechnen und vielleicht unterstellt er nicht gleich allen Syrern, Afghanen oder Pakistanern, sie würden weder demokratische Strukturen noch Frauenrechte kennen. Eine geordnete Rückführung dieser Menschen wurde von der Regierungskoalition von Beginn an auf die Agenda gesetzt und wird angegangen - unter Achtung und Wahrung ihrer Würde, ihre Sicherheit gewährleistend - und nicht in der Verantwortung und Zuständigkeit eines Rassisten wie Ümit Özdağ, dem es zusehends schwerer fällt, seinen zynischen Sadismus zu verbergen.

"Der erste richtige Schritt wäre, dass türkische Wahlen in der Türkei stattfinden und nicht in Deutschland. Auch wenn man die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, sollten Menschen nicht über die Zukunft der Menschen in der Türkei entscheiden, wenn sie nicht dort leben. Aber ein Wahlkampf in der Türkei sollte die Türken in Deutschland nicht spalten, was zurzeit der Fall ist, und auch die dauerhafte Integration türkischer Bürger verhindert. Zudem sollten mehr liberale Vereine und Funktionäre in die deutsche Innenpolitik eingebunden werden und migrationspolitische Entscheidungen mitgestalten – denn sie kennen sich mit innertürkischen Angelegenheiten und Organisationen besser aus."

Lediglich 1,5 Prozentpunkte entscheiden darüber, wer in der Türkei gewählt wird. Das ist der gesamte Stimmenanteil der Auslandstürken in der Welt. 98,5 Prozent der Wählerstimmen stammen also aus der Türkei selbst. Wer ist noch einmal für den Wahlausgang verantworlich? Weshalb debattieren wir aber gerade darüber, über wessen Schicksal die Auslandstürken mitentschieden hätten? Das ist schlicht eine Phantomdebatte! Faktisch gewährt die Staatsbürgerschaft jedem einzelnen über 18 Jahren ein Wahlrecht, egal ob diese sich im In- oder Ausland aufhalten. Das ist in der übrigen Welt nicht anders.

Zum anderen, der türkische Wahlkampf wird schlichtweg von Haustürken hereingetragen und von deutschen Politikern gerne aufgegriffen. Auch in diesem Jahr, Ende Mai, hatte Cem Özdemir noch vor dem ersten Wahlgang die Türken in türkischer Sprache in Deutschland zur Stimmabgabe aufgerufen - und das nicht zum ersten Male. Natürlich wieder in der sicheren Überzeugung, dass Erdoğan abgewählt wird. Und nach dem Wahldebakel verlangte der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft auch noch Rechenschaft von den hiesigen Türken. Der Stachel sitzt offensichtlich tief! Was stört aber den Präsidenten des Vereins türkischer Studenten und des Vereins türkischer Akademiker aus Köln? Der Wahlausgang oder das Wahlverhalten?

Offensichtlich der Wahlausgang und das Wahlverhalten, der seiner Meinung nach 1,5 Prozent geschuldet ist. Und, vielleicht, weil er wie viele Vereine mit türkischem Hintergrund, in die eine wie auch andere negative deutsche Berichterstattung gezwängt wird: Armenier-Resolution; PKK-Konflikt; Graue Wölfe; DITIB sowie Millî Görüş etc... Aber betreibt dieser Verein nicht dasselbe, wie alle anderen Vereine mit türkischem Hintergrund? Das führt doch dazu, dass die politische Teilhabe in Deutschland fast unmöglich gemacht wird, erst recht in Köln, wo seit Wochen eine rostrote Stele mit einem geschlitzten Granatapfel an der Spitze in Sichtweite zum Reiterstandbild Kaiser Wilhelms II. steht. Weil doch hier nicht nach der Pfeife derer getanzt wurde die diese Stele trotz Verbots aufstellten, verlagerte sich die Debatte auf die türkischen Vereine um und in Köln - oder nicht? Aber etwas Distanzieren hier, etwas Kritik da, hier ein kritisches Wort, dort nach dem Munde der Mehrheitsgesellschaft sprechen, sich positiv Hervorheben, schon ist man wieder im Rennen, lieber Herr Taşkıran? In dem Versuch sich herauszukristallisieren, hervorzuheben, anders sein zu wollen, brechen Sie aber alle bestehenden Brücken hinter sich ein.

"Viele Türken in Deutschland kennen die wirtschaftliche und politische Lage der Türkei nicht wirklich, da sie meistens in Deutschland leben und ihren Lebensunterhalt hier verdienen."

Es gibt auch viele Türken, die sich hüben wie drüben auskennen und die Lage überaus gut beurteilen können. Es gibt auch viele Deutschtürken, die in die Türkei aufgebrochen sind und dort ein neues Leben begonnen haben und geblieben sind. Es gibt aber auch Verwandte, Bekannte, die Medienvielfalt, die einem die Heimat näherbringen. Und es gibt die Urlaube, in der jedes Jahr Milliarden allein aus Deutschland in die Türkei fließen und damit einen entscheidenden wirtschaftlichen Beitrag leisten. Das heißt, es gibt nicht Die "vielen", sondern eine Annahme, und die ist bekanntlich nicht aussagekräftig genug und mitunter falsch.

Es gibt aber einen kleinen Kern von verblendeten und verzweifelten Anhängern, die es weiterhin vorziehen, das Offensichtliche trotz der vorhandenen Medienvielfalt, Verwandten und Bekannten abzustreiten und sich selber in die Tasche zu lügen. Der Rest der wahlberechtigten Staatsbürger hatte aber während des Wahlkampfs längst erkannt, was Sache ist, so dass Kılıçdaroğlu nach dem ersten Wahlgang ebenfalls eins feststellen musste: dass er rechts verloren hatte, was er von links bekommen hat. Verzweifelt kam dann die nächste Wendung. Im atemberaubenden Tempo wurde aus "Gandi-Kemal" im zweiten Wahlgang ein "Nazi-Kemal" - übrigens, den Wolfsgruß beherrscht Kemal ebenfalls. Die widerwärtig menschenverachtende Rhetorik des Rassisten Özdağ gehörte mitunter zum Schlimmsten, was man in den letzten Jahrzehnten in einem türkischen Wahlkampf erleben konnte - und Kılıçdaroğlu war mittendrin.

Es ist eine Sache, dass man als Bürger von seiner Regierung erwartet, dass angesichts von zig Millionen Flüchtlingen im Land in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Pläne zur geordneten Rückführung der Menschen vorgelegt werden. Eine gänzlich andere ist es hingegen, das Bild von "Horden von Mädchen- und Frauenschändern, Dieben und Gesindel" zu bedienen und zu versprechen, dass man notfalls auch mit Zwang und im Namen der "Ehre unserer Mädchen und Frauen die Straßen, Plätze und Städte wieder sicher" machen werde. Das ist Neonazi-Rhetorik wie sie im Buche steht.

Diese Wendung war der Punkt, an dem viele endgültig mit diesem Mann gebrochen haben. Indes ist der Geist aus der Flasche. Özdağ hetzt unvermindert weiter. Kürzlich hat er wieder ein Video von tanzenden afghanischen jungen Männern in Istanbul geteilt und in seiner "Expertise" erläutert, dass dies eine Art Vorspiel für einen Akt der "Knabenliebe" sei - und dann mit dem Satz abgeschlossen: "nicht nur die Ehre unserer Töchter steht auf dem Spiel." Diesen Geist hat der angebliche Sozialdemokrat Kemal Kılıçdaroğlu salonfähig gemacht.

Ich weiß, dass Kılıçdaroğlu kein Rassist ist. Ich weiß, dass er kein Terrorist ist. Wenn ein Mann aber in alle Richtungen mit einer derartigen Verve die Sprache und den Geist desjenigen mimt, den er gerade umgarnt, jedem in allen Richtungen alles verspricht, und das auch noch auf so plumpe Art und Weise - man denke nur an die Versprechen, jedem Rentner nach der Wahl 15 Tausend Lira zu überweisen, dann zwei Tage vor dem zweiten Wahlgang das Versprechen, dass der Staat die Kreditkarten-Schulden der Menschen übernehmen werde, dass man den Erdbebenopfern neue Häuser und Wohnungen kostenlos geben werde, und zuguterletzt noch am Wahlmorgen das Versprechen, dass im Falle seiner Wahl die türkische Süperlig unverschlüsselt auf TRT übertragen werde - dann weiß ich zwar immer noch nicht, wer dieser Mann wirklich ist. Ich weiß aber sehr genau, dass ich jedem windigen Gebrauchtwagenhändler mehr Vertrauen schenken kann; ich weiß auch, dass jemand, der so plumpe Versprechen macht, kein respektvolles Bild von seinen Wählern haben kann. Solche Wendungen, Windungen, Volten in so kurzer Zeit hinzulegen und zu glauben, dass es nicht auffällt; solche platten und absurden Versprechen zu machen und tatsächlich zu glauben, dass man sie ihm abkauft, lässt nur den Schluss zu, dass er die Menschen in seinem tiefsten Innern für dumm und einfältig hält. So wie viele Persönlichkeiten in Deutschland, die darauf herumreiten!