An jenem Donnerstagmorgen des 15. Mai 1919 zogen über dem Himmel der Hafenstadt Izmir dunkle Wolken auf. Unter dem Geleitschutz von Kriegsschiffen Großbritanniens, Frankreichs, der USA und Italiens landeten 12.000 Soldaten der griechischen Okkupationsarmee am Hafen der westtürkischen Handelsmetropole. In den Landungsschiffen befanden sich nicht nur Soldaten Griechenlands, sondern auch britische, französische und amerikanische Einheiten.
Vor allem die griechischstämmigen Einwohner Izmirs waren gekommen, um die griechische Streitmacht willkommen zu heißen. Der frühere griechisch-orthodoxe Erzbischof von Izmir, Chrysostomos Kalafatis, der für seine Türkenfeindlichkeit bekannt war, sprach vor einer fahnenschwingenden Menschenmenge in Richtung der griechischen Soldaten. Er sagte: „Seid herzlich willkommen! Oh, die Eroberer Anatoliens! Als ihr mit euren heiligen Kampfstiefeln einen Fuß auf Smyrna gesetzt habt, hat die dreitausend Jahre andauernde Sehnsucht des griechischen Volkes ein Ende gefunden.“ 1
Was der umtriebige Chrysostomos mit diesem Satz aussprach, hatte für die türkisch-muslimische Bevölkerung traumatische Folgen, die bis heute andauern. Die Besetzung Izmirs war nach der Niederlage des Osmanischen Reiches während des Ersten Weltkriegs und dem Waffenstillstandsabkommen von Mudros am 30. Oktober 1918 2 das Fanal zur Invasion Westanatoliens, bei der das griechische Heer ganze Landstriche, Städte und Dörfer niederbrannte sowie durch breit angelegte Massaker an der türkisch-muslimischen Zivilbevölkerung ethnische Säuberungen durchführte.
Bereits am 13. November 1918 hatten Kriegsschiffe der Sieger des Ersten Weltkriegs die frühere Hauptstadt Istanbul besetzt. In den schriftlichen Zeugnissen türkisch-muslimischer Zivilisten, die die Massaker von griechischen Freischärlern und regulären Truppen im 19. und 20. Jahrhundert überlebt hatten, findet sich oft der Ausdruck „Yunan bzw. Rum Mezalimi“ („Griechische Gräueltaten“). In der türkischen und aserbaidschanischen Geschichtswissenschaft hat sich der Terminus technicus Mezalim für massenhafte Gewaltverbrechen an der muslimischen Zivilbevölkerung etabliert.
Ungereimtheiten bei den Bevölkerungszahlen der Griechen in Izmir
Der britische Premierminister und Philhellene David Lloyd George3 hatte im Februar 1919 den Alliierten den Vorschlag unterbreitet, Izmir von den Griechen besetzen zu lassen, was von US-Präsident Woodrow Wilson 4 zunächst abgelehnt wurde. Insbesondere der britische Premierminister war es, der den amerikanischen Präsidenten unter Druck setzte, damit dieser seine Zustimmung zur Besetzung erteilte. Um die Okkupation Izmirs zu legitimieren, hatte der griechische Ministerpräsident Venizelos den Alliierten auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 übertrieben hohe Zahlen zur demografischen Entwicklung der griechischstämmigen Bevölkerung in Izmir vorgelegt. Die griechische Delegation stützte sich dabei auf Zahlenangaben des griechisch-orthodoxen Patriarchats in Istanbul.5
Die Ungereimtheiten bei der Bevölkerungszahl von Izmir fielen auch dem damaligen italienischen Journalisten Ernesto Vassalo auf, der sich seit April 1919 dort aufhielt und seine Eindrücke in der italienischen Tageszeitung „Il Tempo“ veröffentlichte. Der Historiker Mevlüt Çelebi weist in seinem Aufsatz „Die Besetzung Izmirs aus der Feder eines italienischen Journalisten“ (Titel des türkischen Ausgangstextes: „Bir İtalyan Gazetecinin Kaleminden İzmir’in İşgali“) in der Zeitschrift Journal Of Modern Turkish History Studies auf die Inkonsistenz der griechischen Statistiken hin.
Nach griechischen Angaben hatte Izmir eine Gesamtbevölkerungszahl von 416.494, wovon 243.879 Griechen, 96.250 Türken und die übrigen 76.365 waren demzufolge Juden, Armenier und andere ethnische Gruppen. Wegen seiner Zweifel an der Richtigkeit der griechischen Statistik stellte Vassalo diese mit der türkischen Statistik gegenüber.
Nach einem türkischen Zensus von 1917 hatte Izmir eine Gesamtbevölkerung von 238.179 Personen. Davon waren 111.486 Muslime, 87.497 Griechen, 24.403 Juden, 12.857 Armenier und die übrigen 1.936 Katholiken und Protestanten. Vassalo hegte auch Zweifel an der Richtigkeit türkischer Statistiken. Nach seiner Auffassung waren in Izmir die türkischen Bewohner in der Mehrzahl. In der damaligen Provinz Aydın bilden Vassalos Informationen zufolge die Türken gegenüber den Griechen die Bevölkerungsmehrheit, was auch griechische Statistiken bestätigen würden. Der italienische Journalist ermittelte in der Provinz Aydın eine Bevölkerungszahl von 586.000 Griechen und 827.000 Türken.6
Türkische Statistiken weisen für die gesamte Provinz 1.293.000 türkische und 234.000 griechische Einwohner aus. Der Wirtschaftswissenschaftler und Statistiker Servet Mutlu gibt die Bevölkerungszahlen des Sandschaks Izmir (einschließlich der Stadt Izmir) von 1914 wie folgt an: 378.883 Muslime, 214.686 Griechen, 14.273 Armenier und andere 32.915. Der griechische Historiker George Soteriadis ermittelte in seinem 1918 veröffentlichten Buch „An Ethnological Map Illustrating Hellenism in the Balkan Peninsula and Asia Minor“ im Sandschak Izmir 219.494 Muslime, 449.044 Griechen, 11.395 Armenier und 74.113 Andere.
Die osmanische Bevölkerungsstatistik von 1914 hat nach Erkan Serçe für den Sandschak Izmir eine Einwohnerzahl von 639.657 errechnet, während die französischsprachige Gesellschaft „Annuaire Oriental Limited“ von 500.000 Einwohnern ausgeht. Serçe verweist auch auf die Unterschiede bei den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, wo es Abweichungen gibt.
Offizielle osmanische Bevölkerungsstatistiken geben die muslimisch-türkische Bevölkerungszahl des Sandschaks Izmir mit 378.894 Einwohnern und die Zahl der griechischen Bewohner mit 217.686 wieder. „Annuire Oriental“ zählte 120.000 türkisch-muslimische Zivilisten sowie 320.000 griechische Einwohner. Das US-Konsulat in Izmir ging von einer Gesamtbevölkerungszahl Izmirs von 400.000 Einwohnern aus, wovon 165.000 Türken und 155.000 Griechen seien. Von 155.000 Griechen in Izmir hatten Erkan Serçe zufolge 40.000 die griechische Staatsangehörigkeit. (Serçe S. 163).
Hinter Ernesto Vassalos Skepsis gegenüber griechischen Statistiken steckten politische und wirtschaftliche Interessen Italiens in Anatolien. Der Journalist befand sich im Auftrag der italienischen Regierung in Izmir, denn Italien hatte selbst die Absicht, Izmir und die umliegende Region zu besetzen. Als Italien während des Ersten Weltkriegs an der Seite Großbritanniens und Frankreichs in den Krieg zog, vereinbarte Rom mit den Verbündeten am 26. April 1915 (London) und am 8. August 1917 (San Giovanni di Moriana) in zwei geheimen Verträgen nach dem Ende des Krieges die heutige kroatische Stadt Rijeka und die türkische Stadt Izmir zu besetzen.
Zumindest wurde es von London und Paris in Aussicht gestellt (Çelebi S. 132), aber nach der amerikanisch-britisch-französischen Übereinkunft über die griechische Besetzung von Izmir konnte Italien seine Pläne nicht umsetzen und verließ aus Protest die Versailler Konferenz. Die Alliierten erhofften sich mit diesem Schritt, die Landgewinne Italiens bei der Besetzung Anatoliens in gewissem Maße zu begrenzen.
Die griechichstämmige Bevölkerung Anatoliens lebte vor allem an den Küstengebieten, insbesondere in Izmir. Während des Ersten Weltkriegs wurden Griechen, die in den Küstengebieten und in Izmir lebten, als Vorsichtsmaßnahme von den Behörden ins Landesinnere umgesiedelt. Nach der Unterzeichnung der Vereinbarung von Mudros kehrten die einheimischen Griechen zurück in ihre Siedlungsgebiete an der Küste.
Griechischer Irredentismus und der Plan zur Besiedlung Westanatoliens
Im 19. und 20. Jahrhundert propagierte die Ideologie des griechischen Nationalismus die „Megali Idea“ („Die große Idee“), die die Vereinigung aller von Griechen besiedelten Gebiete vorsah und als „griechischer Irredentismus“ bezeichnet wird. Dieser Plan sah die Besetzung von Teilen Anatoliens zulasten des früheren Osmanischen Reiches vor.
Mit der Niederlage des Osmanischen Reiches während des Ersten Weltkriegs sah die griechische Regierung unter Ministerpräsident Eleftherios Venizelos, der als „größter Verfechter“ des irredentistischen Plans zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt, die Gelegenheit gekommen, um die „Megali Idea“ zu verwirklichen. Mit der Realisierung der „Megali Idea“ sollte das alte „Byzanz“ wiederauferstehen, Kleinasien hellenisiert und die türkische Herrschaft über den Balkan und in Anatolien beendet werden.
Unabhängig von den Aussagen des italienischen Journalisten Ernesto Vassalo über widersprüchliche griechische Angaben zur Bevölkerungszahl der griechischstämmigen Einwohner in Izmir hatte die griechische Seite Gründe, die Zahlen zur griechischen Population in Izmir während der Verhandlungen in Versailles als unverhältnismäßig hoch darzustellen, um ein Argument zur gewaltsamen Inbesitznahme Anatoliens in der Hand zu haben. Die „Megali Idea“ war Bestandteil der griechischen Außenpolitik, die einen Zusammenschluss aller griechischen Einwohner auf dem Balkan und in Anatolien vorsah.
Eine der ersten Maßnahmen Athens bei der Okkupation Westanatoliens bestand darin, die demografischen Strukturen zugunsten der griechischen Bevölkerung zu ändern. Die Zielsetzung zur Ansiedlung von Griechen in Kleinasien begann bereits vor der Besetzung Westanatoliens. Griechen, die während der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs aus Izmir und der Region wegzogen und sich in anderen Regionen niederließen, kehrten nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens von Mudros wieder zurück. Die griechische Regierung warb für die Ansiedlung von Griechen nach Anatolien und verabschiedete dazu ein Programm, das finanzielle Anreize für eine Rückkehr vorsah.
Über eine Niederlassung der griechischen Zentralbank in Izmir wurde hierfür pro Person ein Kredit in Höhe von 20 Millionen griechischen Drachmen bei einer Laufzeit von drei Jahren mit einem jährlichen Zinssatz von 6 Prozent angekündigt. Ferner wurden für die griechische Besiedlung Grundstücke und Landgüter in Aussicht gestellt. Mit dem Subventionsprogramm der griechischen Regierung ließen sich zwischen 20. Oktober 1919 und 31. Dezember 1920 insgesamt 126.000 griechische Aussiedler in Westanatolien nieder.
Die osmanische Regierung unter Ministerpräsident Damat Ferit Pascha versuchte zwar durch Appelle, Parlamentsbeschlüsse und Weisungen an das Innen- und Kriegsministerium die Abwanderung der türkischen Bevölkerung in Westanatolien zu verhindern, da aber die Hoheitsgewalt des besetzten Gebietes unter alliierter Kontrolle stand, waren diese Schritte von geringem Wert.
Massaker und Kriegsverbrechen an türkischer Zivilbevölkerung
Nachdem die griechische Armee Izmir und die Umgebung besetzte, wurden in den darauffolgenden Wochen auch Manisa, Turgutlu, Aydın, Nazilli, Ayvalık und weitere Städte Westanatoliens eingenommen. Die griechische Armee ging dabei mit grausamer Härte gegen die türkisch-muslimische Zivilbevölkerung vor. Unter den in Anatolien lebenden Griechen wurden örtliche Milizverbände rekrutiert, die gemeinsam mit der griechischen Armee blutige Massaker an Muslimen verübten.
Die Vertreibungen, Folterungen und massenhaften Gewaltverbrechen der griechischen Okkupationsarmee gegen die muslimische Zivilbevölkerung hatten System. Einen Tag nach der Besetzung Izmirs begannen einheimische Griechen in Westanatolien Milizverbände zu gründen, insbesondere in der Region Söke und Kuşadası.
Meldungen über die Besetzung Izmirs und die von den griechischen Streitkräften begangenen Massaker an türkischen Zivilisten hatten die Bevölkerung im Umland verängstigt und zur Flucht veranlasst. Einige Tage vor Ankunft der Invasionstruppen in Izmir herrschte unter der türkischen Bevölkerung der Region Izmir Unruhe, weil ortsansässige und fremde, bewaffnete griechische Milizionäre, die zuvor wegen verschiedener Straftaten von den türkischen Behörden ausgewiesen oder geflohen waren, die Gegend unsicher machten. Diese griechischen Milizen kamen ab Januar 1919 von den Inseln Lesbos (Midilli), Chios (Sakız) und Samos (Sisam).
Nach einem Bericht des Gendarmerie-Regimentskommandos von Izmir beläuft sich die Zahl der am 15. Mai 1919 in Izmir und in den Dörfern der Halbinsel Urla durch die griechische Armee getöteten türkischen Zivilisten auf über 2.000. Das Regimentskommando in Izmir übermittelte der Generalkommandantur nach Istanbul einen Lagebericht über die massenhaften Gewaltverbrechen der griechischen Truppen gegen die türkisch-muslimische Zivilbevölkerung. Hier ein Auszug aus dem Gendarmeriebericht:
„Während der Besetzung der Stadt Izmir durch griechische Soldaten am 15. Mai wurden beispiellose Morde an der türkisch-islamischen [muslimischen] Bevölkerung begangen. Hunderte von Einwohnern, Offiziere, Polizisten, Frauen und Kinder wurden getötet sowie das Eigentum der meisten geplündert und zerstört. Die Regierungsgebäude und Kasernen wurden belagert und lagen stundenlang unter Gewehr- und Maschinengewehrfeuer.
Nach Einstellung des Feuers wurden alle Regierungsbeamten und Gendarmerie-Delegationen, die sich in Anwesenheit des Gouverneurs versammelt hatten, mit aufgepflanztem Bajonett heruntergebracht und von den grausamen griechischen Soldaten sowie der einheimischen griechischen Bevölkerung, bei der sogar die Kinder bewaffnet waren, unter Beleidigungen, Drohungen, Schlägen und Flüchen gezwungen ʻZito Venizelosʼ [ʻLang lebe Venizelosʼ], zu rufen. Die griechischen Soldaten und bewaffnete Milizen zwangen die Menschen der Reihe nach sich zu entkleiden, raubten ihnen das Bargeld und sogar die schmutzigen Taschentücher. Vielen wurden die Jacken und Schuhe abgenommen […].“7
Soldaten des griechischen Heeres verhöhnten in der Stadt Aydın Muezzine, die vom Minarett der Moschee zum Gebet aufriefen, von denen einige willkürlich getötet wurden. Der Muezzin des Cuma-Viertels, Mehmet Efendi, wurde am 23. Juni 1919 von einer griechischen Armee-Patrouille während der Ausrufung des Gebets mit Waffengewalt vom Minarett geholt und mit einem Bajonett erstochen. Das gleiche Schicksal ereilte auch den Muezzin der Ramazan-Pascha-Moschee, der während der Gebetsausrufung erschossen wurde.
Ferner wurden die Moscheen und die Minarette der muslimischen Gebetshäuser mit Artilleriegranaten und Maschinengewehrfeuer beschossen. Während des heiligen Fastenmonats Ramadan, setzte die griechische Armee Gewalt gegen Muslime ein, um den Zugang zur Moschee bzw. zum traditionellen Gebet zu verhindern. Wer ins Gebetshaus wollte, wurde von Soldaten bedroht und zusammengeschlagen.
Am 29. Juni 1919 attackierte die griechische Armee in der westtürkischen Stadt Aydın das Viertel Cuma. Ein Bewohner des Viertels, Hafız Mustafa Ağa, schildert, wie griechische Soldaten begannen, an mehreren Stellen des Stadtbezirks Feuer zu legten. Die hilflosen Einwohner versuchten aus ihren brennenden Häusern zu fliehen und wurden dabei von den an den Straßen- und Gasseneinmündungen postierten Soldaten der Besatzungsarmee erschossen. Während das Flammen-Inferno wütete, wurde das Viertel mit Artilleriefeuer der griechischen Armee beschossen. Die Zeitzeugenaussage von Hafız Mustafa Ağa ist vom 1. August 1919:
„In unserem Viertel wurden an der Çavuş-Brücke, der Seifenfabrik des Kreters İbrahim Badorakin, an der Teestube und im Stall von Yalabukoğlu Ahmet, am Haus des Canbazoğlu Ali Efendi, vor der Moschee Dükkânönü Cami-i Şerifi, am Haus von Hacı Yahya Efendi und am Haus von Hacı Ibrahim Petroleum ausgegossen, sie warfen Brandbeschleuniger, wodurch Brände an fünf Stellen des Bezirks ausbrachen.
An den Straßeneinmündungen warteten griechische Soldaten. Die Gebäude waren von den Flammen umschlossen, während die um ihr Leben kämpfenden Menschen sich auf die Straße warfen, eröffneten die griechischen Soldaten ohne Rücksicht das Feuer auf Kind und Kegel. Manche kamen dabei um, wiederum manche wurden verletzt und andere überlebten.
Andere Bewohner sahen das Gewehrfeuer in den Straßen, konnten aber aus Angst nicht nach draußen fliehen und verbrannten in den Häusern. Unser Viertel bestand aus 580 Häusern und 30 Geschäften. Davon blieben nur 35 Häuser (Haushalte) übrig. Wir wissen von mehr als 50 Opfern, aber es gibt noch Hunderte Weitere, von denen wir nicht wissen, ob sie tot oder am Leben sind. Da die Bewohner unserer Nachbarschaft in den Dörfern und an anderen Unglücksorten verstreut sind, ist es derzeit nicht möglich, die tatsächliche Zahl der Opfer zu ermitteln. Während das Feuer-Inferno mit voller Kraft wütete, feuerten die Griechen mit Artilleriegranaten auf unser Viertel.
Die griechischen Soldaten zerstörten einerseits die Häuser, schlugen die hilflosen Menschen in den Häusern und verschleppten einige junge Mädchen. Wir haben keine Kenntnis über ihr Schicksal. Diejenigen, die überlebten, flohen in die Städte und Ortschaften wie Nazilli, Çine, Yenipazar und Denizli sowie in Ortschaften und Dörfer, wo sie sich in einem erbärmlichen Zustand befanden.“ 8
Die Vertriebenen flohen in Gebiete, die noch nicht von den Invasoren besetzt waren. Die Gesamtzahl der Geflohenen, die ihre angestammte Heimat wegen der skrupellosen Vorgehensweise des griechischen Heeres gegen die türkische Zivilbevölkerung verließen, wird auf zirka 1,5 Millionen Menschen geschätzt. Zivilisten, denen es nicht gelang zu fliehen, wurden Informationen des Historikers Erol Kaya zufolge von den Besatzern entweder getötet oder gefangen genommen und in Internierungslager gesteckt. Die Gefangenenlager befanden sich entweder in den okkupierten Gebieten in Westanatolien oder in Griechenland selbst.
Für Kaya hatte die Gefangennahme und Internierung von türkisch-muslimischen Zivilisten mehrere Gründe:
- Die demografischen Strukturen zugunsten der griechischen Bevölkerung zu ändern. Kaya untermauert seine These mit einem Zensus zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914. Demzufolge zählte die Provinz Aydın eine Gesamtbevölkerung von 1.608.742 Einwohnern. Davon waren 1.248.067 Einwohner Muslime, 299.096 Griechen, 19.395 Armenier und 35.041 Juden.
- Als weiteren Grund führt Kaya die Internierung von türkischen Intellektuellen und Menschen, die in der Lage sind, Widerstand gegen die griechische Besatzung zu organisieren. Mit der Verschickung sollte der Widerstand gebrochen werden.
- Nach Kaya gab es für die griechischen Besatzer ein weiteres Argument zur Inhaftierung von türkisch-muslimischen Zivilisten, denn nach der griechischen Besetzung am 15. Mai 1919 hatte sich eine türkische Unabhängigkeitsbewegung formiert, die weiteren Zulauf erhielt. 9
Weitere Gewaltverbrechen der griechischen Armee in Westanatolien
Während der Besetzung der westtürkischen Stadt Manisa verübten griechische Verbände in den Dörfern und Kleinstädten Massaker, Vergewaltigungen und Plünderungen gegen die muslimische Zivilbevölkerung. In den Dörfern Hacı Rahmanlı und Kapaklı sowie weiteren Gemeinden, die sich an der Eisenbahntrasse Manisa-Akhisar befanden, begingen griechische Soldaten Gewalttaten gegen die muslimischen Einwohner, bei denen sämtliche Bewohner getötet und das Eigentum geplündert wurde.
Hunderte von Zivilisten wurden in ihren Obstgärten von griechischen Einheiten festgenommen und über Izmir nach Athen verschleppt. Etwa 160 muslimische Kriegsgefangene, die von den Briten zuvor in Ägypten freigelassen wurden, gerieten in erneute Gefangenschaft und mussten unter schweren Bedingungen Zwangsarbeit verrichten.
Laut des örtlichen Polizeiberichts überlebten die meisten Gefangenen die Internierungsbedingungen nicht: sie starben überwiegend wegen Nahrungsmangels oder an der Folter. Die griechische Armee beschlagnahmte Reit- und Tragetiere der Landbevölkerung und wenn die Gräueltaten (Mezalim) nicht aufhörten, so der Bericht, würden alle Muslime vernichtet, falls keine Vorkehrungen getroffen werden sollten.
Griechische Armee setzte bei ihrem Rückzug auf die Politik der verbrannten Erde
In der Schlacht von Sakarya (22. August – 13. September 1922) gelang es der türkischen Armee unter Oberbefehlshaber General Mustafa Kemal Pascha (der spätere Atatürk) den Vormarsch der griechischen Armee aufzuhalten und diese in einem Stellungskrieg zu besiegen. Bei ihrem erzwungenen Rückzug setzte die griechische Armee auf die Taktik der verbrannten Erde. Dabei wurden ganze Städte, Dörfer, Gemeinden, Gebäude, Häuser, Lager, landwirtschaftlich genutzte Flächen und die Infrastruktur niedergebrannt und die Bewohner getötet.
Auch die westanatolische Stadt Afyonkarahisar war davon betroffen, bei dem diese in Schutt und Asche gelegt wurde. Bei der Evakuierung der Stadt Eskişehir legten Soldaten der griechischen Invasionsarmee Brände. Laut einem Bericht eines Aufklärungsfliegers wurden in Eskişehir am Bahnhof drei, auf dem Markt eines und im Süden der Stadt ein weiterer Brand gelegt. Zu Beginn erfolgten dort Plünderungen und im Anschluss wurde die Stadt am Porsuk-Fluss in Brand gesteckt. Wer sich aus dem Feuer retten wollte, wurde erschossen. Die Zahl der getöteten Zivilisten beläuft sich auf etwa 250.
Die meisten Viertel der Stadt, Gebäude, Kaufhäuser, Geschäfte, Schulen, Hamams, Moscheen wurden ein vollständiger Raub der Flammen. Während des Dumlupınar-Stellungskriegs zerstörten griechische Armee-Einheiten die Dörfer Hamurköy und Çal. Eine weitere Stadt, die vollkommen zerstört wurde, ist Uşak, die ebenfalls durch Brände dem Erdboden gleichgemacht wurde. Bevor die türkische Armee in Uşak einrückte, legten griechische Soldaten in der Stadt und in der Umgebung Feuer, verübten Grausamkeiten an der Bevölkerung, bei denen 322 muslimische Opfer durch Feuer ums Leben kamen.
Resümee
Im Zuge der Pariser Friedenskonferenzen bestimmten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, dass Griechenland Izmir und die umliegende Region annektieren sollte. Nach der Einnahme von Manisa am 25. Mai 1919, besetzten griechische Streitkräfte entgegen den Pariser Bestimmungen am 27. Mai 1919 Aydın und danach weitere Städte in Westanatolien. Die griechische Regierung unter Ministerpräsident Venizelos verfolgte im Kontext des griechischen Nationalismus einen irredentistischen Plan, Megali Idea genannt, der die Besiedlung Westanatoliens durch griechische Aussiedler vorsah, zu Lasten der türkisch-muslimischen Mehrheitsbevölkerung.
Um die demografischen Strukturen Westanatoliens zu ändern, führten die griechischen Streitkräfte einen rücksichtslosen Feldzug gegen die muslimische Zivilbevölkerung. Der US-Amerikanische Historiker Justin McCarthy beziffert in seinem Buch „Death and Exile“ die Zahl der durch die griechische Armee während der Okkupation Westanatoliens getöteten Muslime auf 640.000 Menschen, die der Überlebenden auf 860.000 Flüchtlinge sowie 1,2 Millionen türkisch-muslimische Vertriebene.10
Hinter der Landung alliierter Kriegsschiffe und der anschließenden Besetzung Izmirs am 15. Mai 1919 sowie weiterer Städte und Ortschaften Westanatoliens steckte ein konkreter Plan der Siegermächte des Ersten Weltkriegs zur Aufteilung Anatoliens. Die griechische Regierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Venizelos verfolgte ein expansionistisches Ziel zur Erweiterung des eigenen Territoriums, um die irredentistische „Megali Idea“ umzusetzen. Die gegen die türkisch-muslimische Bevölkerung gerichteten ethnischen Säuberungen, Zwangsvertreibungen, Internierungen, sexuellen Gewaltverbrechen, Plünderungen, Unterdrückungen und Verfolgungen in der Zeit der griechischen Besetzung Westanatoliens (1919-1922) haben sich tief im kollektiven Gedächtnis der türkischen Gesellschaft eingeprägt, und sind noch heute präsent.
1 Vgl. Burhan, Sabahattin, Ege´nin Kurtuluş Destanı: Yörük Ali Efe, Yeni Asya Yayınları, Istanbul 1998, S. 276, Übersetzung des Verfassers.
2 Aus dem Blickwinkel der Siegermächte des Ersten Weltkriegs war die Vereinbarung von Mudros ein Triumph, weil die Alliierten dem Osmanischen Reich die Kapitulation diktiert hatten, aber aus türkischer Sicht stellte dieser Vertrag neben dem Abkommen von Sèvres eine schwere Demütigung dar und wie es der türkische Historiker Ilber Ortaylı in seiner exzellenten Atatürk-Biografie konstatiert als „Todesurteil gegen die Türkei“ aufgefasst. Vgl. hierzu Ortaylı, Ilber: Gazi Mustafa Kemal Atatürk, Kronik Kitap, Istanbul 2018, S. 140.
3 David Lloyd George war von 1916-1922 britischer Premierminister und zuvor Abgeordneter, Handelsminister, Schatzkanzler und Kriegsminister.
4 Thomas Woodrow Wilson gehörte der Demokratischen Partei an und war in seiner Amtszeit von 1913-1921 der 28. Präsident der Vereinigten Staaten.
5 Wie die Historikerin Emine Pancar in ihrer Dissertation erläutert, waren die manipulierten Statistiken des griechisch-orthodoxen Patriarchats zur Bevölkerungszahl der griechischstämmigen Bevölkerung in Anatolien entscheidend bei der Zustimmung der Alliierten zur Besetzung Westanatoliens.
Nach den Statistiken des griechisch-orthodoxen Patriarchats betrug die griechischstämmige Gesamtbevölkerung in Anatolien 1,7 Millionen, während hingegen in Aydın und Bursa 1.080.000 Griechen lebten. Mit der griechischen Bevölkerung auf den Inseln waren es demnach zusammen 1.450.000 Einwohner. Beim Zensus der muslimischen Bevölkerung in Anatolien errechnete das Patriarchat 943.000 Personen, vgl. Pancar, Emine: Aydın ve Muğla Kuva-yi Milliyesi, Doktora Tezi, 9 Eylül Üniversitesi, Izmir 2010, S. 82.
6 Die ehemalige Provinz Aydın setzte sich aus den osmanischen Sandschaks Izmir, Aydın, Saruhan und Denizli zusammen, dessen Zentrum Izmir war.
7 Vgl. Askeri Tarih Belgeleri Dergisi, Umum Jandarma Komutanlığı’na, Belge No: 2365 (20. Mai 1919), Erscheinungsjahr 1992, Heft 93, Genelkurmay Basımevi, Ankara 1992, S. 12, Übersetzung des Verfassers.
8 Vgl. ebd., Belge No: 2375, S. 48-49, Übersetzung des Verfassers.
9 Vgl. Kaya, Erol: Milli Mücadele Döneminde Hilal-i Ahmer Cemiyetiˈnin Anadolu ve Yunanistan`daki Türk ve Yunan Esirlerine Yaptığı Yardımlar, Turkish Studies, Skopje/Ankara, Volume 3/2 Winter 2008, S. 469-472.
10 McCarthy, Justin: Death and Exile, The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims 1821-1922, Princeton 1995, S. 304.