Stichwahl in der Türkei - der Drops ist gelutscht

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Hakan Bayrakçı, Gründer des türkischen Umfrageinstitus SONAR, warnt seit Jahren die Oppositionspartei CHP, sich mit der völkisch-kurdischen HDP bzw. deren Yeşil Sol Parti (Grüne Linke Partei, YSP) abzugeben, um gegen den amtierenden Präsident Erdoğan anzutreten. Andernfalls werde die Partei Atatürks vom eigenen nationalen Lager nicht gewählt. Bayrakçı spricht dabei von einer seit Jahrzehnten wandernden Wählerschaft, die bis zu 15 Prozent ausmache und eine für die türkische Politik maßgebliche Rolle spiele.

Mit 49,5 zu 44,89% liegt Erdoğan nach Auszählung von 99,87% der Stimmen vorne. Es wird also zu einer Stichwahl kommen. Sein Vorsprung beträgt 2,5 Millionen Stimmen. Etwa 3 Millionen Stimmen verteilen sich auf die beiden anderen Kandidaten (2,8 Millionen für den Rechtsnationalisten Sinan Oĝan, 200.000 für Muharrem Ince).

Selbst wenn sich die Zahlenverhältnisse im zweiten Wahlgang genauso konsolidieren, müsste der Herausforderer von Recep Tayyip Erdoğan (AKP), der Oppositionskandidat der CHP Kemal Kılıçdaroğlu fast 80% der Stimmen Sinan Oğans auf sich ziehen, um Erdoğan zu schlagen.

Davon ist nicht auszugehen, und zwar unabhängig davon, zu wessen Gunsten Oğan seine Wahlempfehlung ausspricht. Er hat keine Stammwählerschaft sondern rekrutiert aus dem nationalistischen Lager, das wiederum zwischen der MHP und der  IYI-Partei ungefähr gleich stark sowohl hinter Erdoğan als auch hinter Kılıçdaroğlu versammelt ist.

In der Nachbetrachtung geht aber auch etwas anderes bislang unter: Erdoğans Wahlbündnis hat eine satte Mehrheit im Parlament. Damit ist jenes zentrale Ziel, um das sich das höchst heterogene Oppositionsbündnis versammelt hatte - nämlich die Wiederherstellung eines "gestärkten parlamentarischen Systems" - völlig unabhängig vom Ausgang der Stichwahl gescheitert.

Dieser Umstand wird sich auch auf den Ausgang der Stichwahl auswirken.

Es ist nicht davon auszugehen, dass die türkischen Wähler sehenden Auges eine vorprogrammierte Staats- und Verfassungskrise wählen werden.

Die erste Amtshandlung eines möglichen Präsidenten Kılıçdaroğlu müsste nämlich die Auflösung des gestern Abend gewählten Parlaments sein. Dafür müsste sich dieses aber erst konstituieren. Bevor es sich nicht konstituiert  könnte aber ein Staatspräsident auch nicht vereidigt werden.

Ich sehe jetzt schon, wie sich Journalisten, Politiker und Juristen in den endlosen türkischen Polittalkshows die Köpfe heiß diskutieren.

Nein, Leute, die Sache ist gegessen. Die Türken werden ganz sicher nicht ein solches Chaos wählen. Erdoğan kann die Stichwahl nur noch verlieren, wenn seine Wähler im Gefühl des sicheren Sieges aus Bequemlichkeit dem zweiten Wahlgang fernbleiben.

Ein Motivationsproblem könnte es freilich auch auf Seiten der Opposition geben. Zwei Wochen werden sich sicher nicht mit trotzigen Durchhalteparolen überbrücken lassen. Das Oppositionsbündnis wird sich nun eiligst programmatisch erklären müssen, wie und vor allem mit welchem Ziel es denn gedenkt, das Land unter den sich abzeichnenden Bedingungen regieren zu wollen.