Wahlkampf-Déjà-vu in der Türkei

Zu lesen in den Sprachen: GERMAN

Am 9. September feierte man in der Türkei zum 100. Mal die Befreiung der Küstenstadt Izmir. In Izmir wurde das im Rahmen eines Konzerts mit Tarkan ausgerichtet. OB Tunç Soyer sprach während seiner Rede von einem Verrat des letzten Sultans.

Tunç Soyer (CHP), Oberbürgermeister der Stadt Izmir, nahm die Feierlichkeiten zum Anlass, vor der angetretenen Parteispitze der Opposition eine enthusiastische Rede abzuhalten, die über den Verrat des letzten Sultans am Volk, bis hin zum gefährdetem Laizismus reichte und das alles eine Gefahr für die türkische Demokratie darstelle.

Ein Déjà-vu-Erlebnis

Erleben wir hier wieder ein Déjà-vu? In den vergangenen Wahlen wurde von der Republikanischen Volkspartei CHP jedes Mal die Laizisten und Antilaizisten-Karte ausgespielt. Auch das Szenario, dass man prognostizierte, die Republik sei in Gefahr, griff nicht. Jedes Mal erreichte man damit nicht die Wähler, sondern nährte die Spaltung der Gesellschaft, statt, wie sie selbst des Öfteren angeben, vereinen zu wollen.

Offenbar bläst man in kleiner Runde ins Horn, um den harten Kern der Wählerschaft der CHP bei Laune zu halten, noch enger zusammenzurücken. Das führt inzwischen zu einem ungesunden Verständnis über die türkische Geschichte. Die Spitze der Partei trägt dabei maßgeblich dazu bei, dieses Verständnis weiter zu pflegen.

Izmir und die Befreiung

In Izmir wurde das am 9. September noch einmal deutlich. Die Debatten darüber, ob nun der letzte Sultan einen Verrat am Land beging und mit einem britischen Zerstörer Istanbul verließ, oder ob mit der Befreiung Izmirs von den Griechen, die Gründung der Republik einherging, zeigen, dass die CHP mit der osmanischen Geschichte nichts zu tun haben will.

Was die CHP sich nicht eingestehen will ist, dass das Osmanische Reich aus dem vorherigen Seldschuken-Reich hervorging und die wiederum von anderen Fürstentümern und Reichen, das Osmanische Reich seit dem 18. Jahrhundert Veränderungen unterworfen war, bis hin zu verfassungsgebender Ordnung, die letztendlich in der Republik aufging. Das wird auch daran deutlich, dass die meisten Volksvertreter der osmanischen Abgeordnetenkammer, mit der Befreiungsbewegung sich dem Ankaraner Nationalparlament anschlossen und damit das Volk vertraten.

Wahlkampfpropaganda der CHP

Der Wahlkampf für 2023 hat längst begonnen, nicht erst seit der Rede von Tunç Soyer in Izmir. Die Propaganda der CHP sorgte dafür, dass die Feierlichkeiten bzw. das Konzert auf der Promenade zu einem der 5 größten Menschenansammlungen in der Welt verklärt wird. Als Beleg dafür wurde von der Propagandaabteilung der CHP ein Wikipedia-Eintrag herangezogen, wobei man zuvor die Seite darüber selbst bearbeitet hatte. Selbstverständlich griff das Kontrollmechanismus der Wikipedia und der Beitrag hierzu wurde wieder gelöscht. Das änderte aber nichts daran, dass diese Kampagne griff.

Laut der Polizei und dem Gouverneur, waren zu den Feierlichkeiten zwischen 300.000 bis 600.000 Menschen gekommen, um kostenlos Tarkan singen zu hören. Mehr als diese Zahl konnte der Platz, an dem die Veranstaltung stattfand, auch nicht aufnehmen. Der Stargast sang und die Massen tobten; ganz im Sinne von OB Tunç Soyer, der ein inniges Verhältnis mit Tarkan pflegt. Im Anschluss nach dem Konzert sprach man von über 2,5 Millionen Menschen, die der Feierlichkeiten beigewohnt hätten. Eine Zahl, die verdeutlichen soll, dass die Stadt zum Leuchtfeuer der Demokratie geworden ist.

Kann eine Stadt allein den Anspruch erheben, den Laizismus und die Demokratie zu verteidigen? Die letzten Wahlen haben gezeigt, dass dieser Anspruch von den Wählern nicht honoriert wird. Die Betonung auf Laizismus und Demokratie fand in der Fläche keinen Zuspruch, sondern sprach nur noch die harte Kernwählerschaft an.

Die breite Masse wurde aufgrund der Betonung in den Wahlen zuvor stets irritiert, man fand sich im Feindbild der CHP wieder, was der amtierenden Regierungskoalition bzw. der AKP unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten und derzeitigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan den steten Zulauf bescherte.

Die AKP musste nur unterstreichen, dass die CHP mit der Vergangenheit der Türkei nicht im Reinen sei, mit der osmanischen Geschichte nicht ins Reine komme und daher eine Aversion gegen den letzten Sultan pflege.

Der letzte Sultan als Feindbild

Die Wähler interessiert aber nicht, ob Izmir ein Leuchtfeuer der Demokratie und Laizismus ist; ob der letzte Sultan Mehmet VI., als das Land inmitten eines Befreiungskrieges war, Nimed Nevzad zur Ehefrau nahm und schließlich das Land verriet, um mit einem britischen Kreuzer Istanbul angeblich Hals über Kopf zu verlassen.

Die Deutung, dass der letzte Sultan während des Befreiungskrieges heiratete, das Land verraten habe, ist eine These, die die CHP gegenwärtig vermehrt vertritt. Es verwundert nicht, dass sogar namhafte Historiker mit ihren Thesen und dem Geschichtsverständnis über das Osmanische Reich und dem Übergang zu Republik Türkei, mit den letzten Jahren des Sultans, vorsichtiger umgehen, um ja nicht in den Schwitzkasten der „Laizisten“ und „Kemalisten“, ja sogar von „Bozkurt-Kemal“ genommen zu werden. Schließlich geraten sie selbst schnell ins Visier des harten Kerns der CHP.

Von Bay-Kemal zu Bozkurt-Kemal

Apropos „Bozkurt-Kemal“; das bezieht sich auf den Oppositionschef der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, dem nun von seiner eigenen Wählerschaft diese hohe Auszeichnung zuteilwurde: „Grauer Wolf-Kemal“

Der Wählerschaft geht es vielmehr darum, welche Qualifikation eine Partei oder der Chef hat oder vorgibt zu haben, dass das Land in schweren Zeiten führen will. Kommen wir zu den Qualifikationen der Parteilandschaft oder deren Führern, so zeichnet sich ein desaströses Bild ab.

Das ist auch zum Gespött der Wählerschaft geworden. Während Erdoğan landesweit Projekte beginnt oder Fabriken feierlich eröffnet, beschäftigt sich die Parteispitze der CHP mit Kunst und Kultur. Statuen und Skulpturen werden feierlich vom übergestülptem Tuch befreit, als würde es den Wohlstand mehren, die Ängste und Sorgen der Bürger ein Stück weit abnehmen.

Skandale wo man nur hinsieht, aber nichts Greifbares

Während Erdoğan damit konfrontiert wurde - gegenwärtig immer noch - seine Partei sei in einem Sumpf von Vetternwirtschaft gefangen und von Schmiergeldaffären geprägt, tauchten unvermindert Skandale auf, die die Opposition selbst betrafen. Über Erdoğan pflegt man zu sagen, er sei ein Machtmensch. Nur wenig später erfahren wir, dass der Istanbuler OB Ekrem İmamoğlu beim Verscherbeln des Istanbuler Silberbestecks (Swissotel Grundstück) nicht nur über die Köpfe der eigenen Ratsmitglieder hinweg entscheiden wollte, sondern seine eigenen Parteimitglieder mit Parteiausschluss drohte.

Die Wähler sind nicht auf den Kopf gefallen oder neigen dazu, Wahlkampfparolen oder den großzügigen Wahlversprechungen zu erliegen. Sie interessiert, wie ihre Ängste und Sorgen, wie ihre Zukunft aussehen wird; am besten noch während der Wahlkämpfe selbst, um sich ein Bild zu machen, wer nun produktiv ist, wer nicht. Letztendlich gewann Erdoğan die Wahlen, weil er überzeugend darlegte, seine gesamte Kraft für die Türkei einzusetzen, während der Führer der größten Oppositionspartei, Kemal Kılıçdaroğlu, von einem Fettnäpfchen in den anderen trat.

Die Redekunst entscheidet mit

Erdoğan ist nicht nur ein exzellenter Redner, der in der türkischen Geschichte und im Allgemeinwissen gut bewandert ist, sondern auch ein überzeugender Darsteller. Er spricht bewusst kontrolliert und die meisten Reden sind auswendig gelernt oder Reden, die fließend und fehlerfrei Ad-hoc gesprochen werden.

Anders Kemal Kılıçdaroğlu. Er ist ebenfalls einer der alten Kaderschule, bekommt es aber nicht gebacken, eine kurze Rede fehlerfrei auszusprechen. Spricht er wie jüngst von der Schlacht am Sakarya (Sakarya Meydan Muharebesi), dann meint er doch tatsächlich, die Schlacht hätte in der gleichnamigen Provinz Sakarya stattgefunden. Soviel Unkenntnis über eines der wichtigsten Ereignisse im Befreiungskrieg, das verzeiht ihm vielleicht die harte Kernwählerschaft, nicht aber die breite Masse an Wählern.

Nur zur Info: die Schlacht am Sakarya fand in den weiten Ebenen von Polatlı statt, vor den Toren der Hauptstadt Ankara, durch die auch der Fluss Sakarya fließt.

Wagenburgmentalität

Die Opposition, allen voran die CHP, setzt derweil wieder auf die Wagenburgmentalität; ob in Izmir, Ankara oder Istanbul. Am 9. September konnte man das eindrucksvoll während und nach dem Tarkan-Konzert erleben. Izmir wurde zum Hort der Demokratie und Laizismus verklärt. Hier werde entschieden, ob Erdoğan gehe oder das Land in den Abgrund führe.

Nur, das Land besteht nicht aus diesen wenigen Metropolen. Das Land wurde auch nicht von den griechischen Besatzern in Izmir zurückgedrängt, sondern von Aufständen in Anatolien und der Befreiungsarmee in Richtung Izmir gedrängt und zurück ins „Meer geworfen“.

Die konsequente Betonung, Izmir sei ausschlaggebend für die Türkische Republik und deren Geschichte, spaltet das Land, als dass es sie vereint. Die Verweigerung der CHP, die Geschichte und Kultur der Türken und die Geschichte des Landes vereint zu betrachten, mit ihr ins Reine zu kommen, ist das größte Problem der Partei, die sie seit mehr als 20 Jahren mit sich trägt; von einer Wahl zur anderen versteht sich.

Zudem, demoralisierende Wahlkampfkampagnen oder negativ behaftete Wahlreden, die mit positiv einhergehenden Wahlversprechungen einhergehen, greifen nicht mehr. Das zeigt auch ein Ergebnis einer Studie, wonach zweidrittel der negativ behafteten medialen Werbekampagnen der CHP und ein Drittel der AKP zugerechnet werden.

Und dieses falsches Konzept setzt die größte Oppositionspartei CHP weiterhin fort; nicht nur während der Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Befreiung Izmirs, sondern bei symbolträchtigen Projekten der Türkei. Das ist ein Problem, dass mittlerweile auch die größte Oppositionszeitung „Sözcü“ vermehrt zum Ausdruck bringt, zuletzt Soner Yalçın.