70 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass die Türkei sich in naher Zukunft nur mit der atomaren Abschreckung schützen kann. In der türkischen Öffentlichkeit ist man seit den israelischen Angriffen auf Gaza, den Iran, Libanon und Syrien verunsichert und befürwortet als Reaktion darauf die Entwicklung oder Erwerb von Atomwaffen.
Laut einer vom 1. bis 5. Juli von Research Istanbul durchgeführten Meinungsumfrage antworteten 71 Prozent der Befragten auf die Frage „sollte die Türkei mit der Entwicklung von Atomwaffen beginnen?“ mit „Ja“, während nur 18 Prozent mit „Nein“ antworteten. Weitere 11 Prozent waren unentschlossen oder hatten keine Meinung dazu.
Denselben Umfrageergebnissen zufolge glauben auch mehr als 70 Prozent (72 Prozent) der Bevölkerung nicht daran, dass die NATO die Türkei im Falle eines Angriffs schützen würde. Der Anteil derjenigen, die glauben, dass die Türkei über ein ausreichendes Luftabwehrsystem verfügt, liegt mit 48 Prozent weiterhin unter 50 Prozent.
Die zunehmende Kriegs-, Konflikt- und Spannungsatmosphäre in unmittelbarer Nähe zur Türkei ist laut Experten ein Ergebnis dieses Meinungsumschwungs. Die Ergebnisse von Research Istanbul zeigen, dass die Wahrnehmung externer Bedrohungen auch die Frage aufwirft, ob die gegenwärtige türkische Sicherheitsarchitektur genügt oder um eine Abschreckungswirkung erweitert werden muss.
Diese Sorge hat auch die öffentliche Diskussion angestoßen und wird derzeit kontrovers geführt. Bemerkenswert daran ist, dass viele Kommentatoren in der jüngsten Vergangenheit die gesellschaftliche Sicht darauf übergangen und übersehen hatten: Die Gesellschaft hatte jedoch nicht erst mit den geopolitischen Krisen begonnen, neue Reflexe zu entwickeln, um potenziellen externen Bedrohungen zu begegnen, sondern nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016. Viele Bürger sind längst der Meinung, dass sich die Türkei stärker auf ihre eigenen militärischen Fähigkeiten verlassen, Unabhängigkeit erreichen muss.
Diese Ergebnisse spiegeln die wachsende Besorgnis der Öffentlichkeit angesichts der eskalierenden regionalen Konflikte im Nahen Osten, auf dem Balkan und im Kaukasus wider. Das allgegenwärtige Gefühl einer Bedrohung von außen veranlasst die türkische Gesellschaft dazu, Sicherheitsmaßnahmen in Betracht zu ziehen, die bislang tabu waren, darunter auch das Streben nach nuklearer Abschreckung - Erdi Ozturk, Professor an der London Metropolitan University
Alle Krisen im Nahen Osten, auf dem Balkan und im Kaukasus betreffen die Türkei direkt oder indirekt. Als ob das nicht schon den diplomatischen Spagat ausgereizt und die Türkei inzwischen auf einen schmalen Grat herangeführt hat, war die Türkei in den letzten Jahren gezwungen, sich den geopolitischen Akteuren wie Russland anzupassen und gleichzeitig ihre eigene Sicherheit im Nahen Osten zu schützen, einer Region, die von Machtkämpfen zwischen China und den USA geprägt ist. Gleichzeitig erlebt sie Spannungen im Mittelmeerraum und der Ägäis, selbst mit europäischen Ländern, mit denen sie über die NATO verbündet ist.
Kurz gesagt: Die Türkei ist heute auf drei Seiten vom Meer und auf vier Seiten von Konflikten und Bedrohungen umgeben. Unter diesen Umständen muss sich die Türkei schützen und neu positionieren, so die Devise innerhalb der türkischen Gesellschaft.
Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan betonte während des jüngsten NATO-Gipfels in Den Haag in Zusammenhang mit Artikel 5 des Nordatlantikvertrags (NATO-Vertrag), dass dieser Artikel im Grundprinzip nie wirklich auf die Probe gestellt worden sei - eine Anspielung darauf, dass die Türkei womöglich stehen allein gelassen wird? Erdoğan hatte bereits 2019 in einer Rede seinen Missmut darüber bekundet, dass die Türkei keine Atomwaffen haben soll. "Einige Länder haben Raketen mit nuklearen Sprengköpfen. Nicht nur eine oder zwei." Der Türkei würde man jedoch sagen, sie solle keine Atomraketen haben. "Das akzeptiere ich nicht", sagte Erdoğan auf einem Wirtschaftsforum in der zentraltürkischen Stadt Sivas.
In der Öffentlichkeit herrscht seit längerem die Meinung, dass die westlichen Verbündeten bei Ausrufung des Artikel 5, das Land im Falle eines Angriffs nicht schützen werden.