Als der jüdischstämmige türkische Journalist Rafael Sadi über Erdoğan sprach und die Journalistin und Moderatorin Şirin Payzın in der TV-Sendung der Halk TV "Şirin Payzın ile sözüm var" kurz die Contenance verlor, war die Maskerade für einige Augenblicke sichtbar geworden.
Sadi hatte auf Nachfrage von Emin Çapa wiederholt, mit Erdoğan gemeinsam 4 Jahre Wirtschaftswissenschaften studiert zu haben. Seine Wenigkeit habe das Diplom nicht gemacht, Erdoğan schon. Er bezeichnete Erdoğan auf die Frage von Şirin Payzın hin als ruhigen und besonnenen Studenten.
Wer Präsident der Türkei werden will, muss vier Jahre studiert haben und einen Hochschulabschluss vorweisen. An der Diplomurkunde Recep Tayyip Erdoğans wird aber weiterhin gezweifelt, seit er im Amt und Würden ist. Zweifeln ist erlaubt, aber krankhaften Zweifel nennt man umgangssprachlich Zwangsgedanken. Es ist eine psychiatrische Erkrankung.
Yusuf Halaçoğlu, Mitglied der IYI-Partei, war 2015 nach den Wahlen von 2014 einer der ersten, der nach Gerüchten über eine Präsidentschaftskandidatur öffentlich erklärte, Recep Tayyip Erdoğan habe keinen Diplom, um einer zu werden. Prompt wurde Halaçoğlu dafür von Erdoğan verklagt. Wie es endete, können nur Halaçoğlu und Erdoğan selbst sagen. Die politisch-populistische Einlage von Halaçoğlu zeigte ihre Wirkung, nicht aber den gewünschten Erfolg. Halaçoğlu ist jedenfalls seither still und Erdoğan noch im Amt.
Mitte 2016 sah sich die Marmara-Universität dann auf Druck der Öffentlichkeit und Medien gezwungen, eine Erklärung abzugeben und den Gerüchten um das Diplom von Erdoğan ein Ende zu setzen. Erdoğan habe laut der Universität ein vierjähriges Studium absolviert und das Diplom in Wirtschaftswissenschaften erlangt.
Wer meint, damit wären die Gedanken rein, das Gewissen beruhigt, die Debatte beendet, der irrt. Seither wird nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa und insbesondere in Deutschland gerätselt, weshalb bei der Kopie des Diploms die Erdoğan für das Präsidentenamt vorgelegt habe, der Name der Fakultät anders heißt; weshalb das Diplom älter ist als die Universität selbst; weshalb das Bild von Erdoğan auf der Kopie des Diploms fehlt; warum dort die Unterschrift nicht gesetzt ist und da etwas anderes steht als bei anderen Absolventen der Marmara-Universität.
Zwar hatte der Rektor der Marmara-Universität, Prof. Dr. Zafer Gül, sowie der darauffolgende Prof. Dr. Mehmet Emin Arat auch hierzu breit und tief Erklärungen parat; was es unter anderem mit dem Alter des Diploms, der Namensungleichheit der Fakultät, der Universität und anderen Widrigkeiten auf sich hat, aber das, was danach folgte, übersteigt inzwischen jene Hirngespinnste, die um den Terroranschlag 9/11, Area 51 oder Elvis Presley gesponnen werden.
Es half auch nicht mehr, dass die Tageszeitung Cumhuriyet zähneknirschend einräumen musste, dass das Diplom offenbar keine Verschwörungstheorien zulässt. Auch die Journalistin Ayşe Hür wollte diesem Treiben aus dem US-amerikanischen Exil heraus nicht mehr Folge leisten, und es brachte auch nichts, dass unter anderem der Istanbuler Abgeordnete der Oppositionspartei CHP, Aydın Ayaydın, auf populistische Anregung des völkisch-kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş (Demirtaş forderte Jahrgangsstudenten oder Professoren auf, das Studium von Erdoğan zu bestätigen) hin erklärte, er habe während des vierjährigen Studiums Erdoğan selbst gesehen bzw. als Assistent im Unterricht und während der Prüfungen begleitet.
Mittlerweile werden aber auch Gerichte für diese Verschwörungstheorie herangezogen. Es gibt latente Patienten, zu denen sich auch eine türkische kommunistische Partei namens HKP hinzugesellt hat, die seither daran festhalten, woran sie verzweifelt glauben wollen. Die HKP hat ja das Recht, mit einer Klage den Rechtsweg in der Türkei voll auszuschöpfen, um zu beweisen, dass das Diplom von Erdoğan eine Fälschung ist. Aber damit bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterziehen zu wollen oder vor dem Gericht in Straßburg eine Protesteinlage hinlegen?
Offenbar grassiert der Kult um Erdoğan nicht nur bei hartgesottenen Erdoğan-Anhängern, sondern auch und vor allem bei seinen Gegnern. Letztere profilieren sich mit seinem Namen und können dabei auf Publicity setzen, ihr eigenes Profil schärfen und dabei auf Unterstützung hoffen. Wenn aber Zwangsgedanken und Aberglauben außer Kontrolle geraten, dann wird es zu einer Krankheit, zu einer psychiatrischen Erkrankung. Da hilft dann auch kein weltliches Urteil mehr.
Vor allem in Deutschland ist man geradezu vernarrt in Erdoğans gefälschten Diplom. So sehr, dass die Presse zwar tiefgründig über die Debatten aus der Türkei auf und ab berichtet, aber den Ausgang der Debatten bislang geflissentlich übergeht. Sobald etwas in irgendeiner Weise den Horizont mancher Bauerntrampel übersteigt, wird das stillschweigend zur Kenntnis genommen, weil man sich offensichtlich nicht die Blöße geben will.
In der Türkei dürfte das Thema seit dem 28. September vorläufig gegessen sein. Şirin Payzın, Barış Terkoğlu und Emin Çapa wurden von Rafael Sadi ausgerechnet bei der eigenen Propagandasendung der Halk TV vorgeführt.