In den letzten zwei Jahrzehnten hat eine neue Generation von israelischen Historikern ziemlich gründlich mit dem gerade auch im Westen hartnäckig gepflegten Mythos aufgeräumt, dass Krieg und Vertreibung im Nah-Ost-Konflikt Folge arabischer Angriffe sei, derer sich Israel zu erwehren musste.
Auch wenn die Erkenntnisse dieser Arbeiten auch in Israel (noch) nicht im gesellschaftspolitischen Diskurs angekommen sind, kommt es mir oft so vor, dass man in Israel selber objektiver und ehrlicher an diese Dinge herangeht, als in Deutschland.
Was die tagesaktuellen Entwicklungen anbelangt, vertraue ich einer Zeitung wie Haaretz sowieso mehr, als der gesamten deutschen Presse zusammen genommen, die derzeit eine Kriegseuphorie an den Tag legt.
In ganz Europa werden daher propalästinensische Demonstrationen verboten. Wir erleben gleichzeitig eine gefährliche Gleichsetzung der Begriffe "Palästinenser-Hamas-Muslime-Terrorismus".
Da werden vermeintliche Jubelfeiern von klassischen linksextremistischen Gruppierungen aus der Palästinenserszene in Berlin als islamistisch gelabelt und - wie etwa beim ZDF - mit den Islamverbänden in Deutschland assoziiert (dass auch diverse deutsche und türkische Anti-Erdogan-Strukturen versuchen diese Anschläge politisch zu instrumentalisieren, verkompliziert die Lage zusätzlich, sei hier aber nur am Rande erwähnt).
Die Palästinaflagge - mit der sich echte islamistische Hamas-Anhänger wahrscheinlich gar nicht mal so sehr verbunden fühlen - wird geradezu kriminalisiert.
Ein türkischstämmiger Fußballprofi, der auf Social Media seine Solidarität mit Palästina bekundet - wohlgemerkt, ohne sich mit auch nur einer Silbe mit Terror gemein zu machen - wird von seinem Club einbestellt, gerügt und muss sich entschuldigen.
Leute, findet Euch damit ab, dass Ihr Millionen von Menschen im Lande habt, die Euer konventionelles Verhältnis zu Israel nicht teilen. Sie sind deswegen keine Terroristen oder Terrorunterstützer.
Wir haben es hier mit diametral gegensätzlichen Narrativen zu tun. Für Euch "autochthone" Deutsche ist Israel ein Staat, der nach dem Holocaust als Refugium für Juden aus aller Welt entstanden ist.
Für die große Mehrheit der Menschen mit Wurzeln in Nah-Ost - oder ganz allgemein in der islamischen Welt - ist Israel ein kolonialistisches Projekt mit einer expansionistischen Agenda.
Das bedeutet nicht, dass diese Menschen die Macht des Faktischen negieren. Das bedeutet nicht, dass sie nach der Auslöschung Israels streben. Das bedeutet nicht, dass sie Terror gegen unschuldige Zivilisten, das Abschlachten von Frauen und Kindern gutheißen.
Hört auf, ihre Narrative zu ächten oder gar zu kriminalisieren. Sucht nach dem Kompromiss, nach dem Konsens. Und falls es keinen gibt, lernt damit zu leben, dass man auch im Widerspruch respektvoll koexistieren kann.
In diesen Tagen sollte man sich an den legendären Edward W. Said (Literaturtheoretiker, Kulturkritiker und politischer Aktivist) erinnern, der die Palästinenser als vergessene Opfer des Holocausts bezeichnete. Sie zahlen die Rechnung für das, was den Juden von Europäern und Deutschen angetan wurde. In einer geradezu hysterisch aufgepeitschten politisch-medialen Öffentlichkeit in Deutschland, die selbst palästinensische Flaggen faktisch kriminalisiert, wird das gegenwärtig in Abrede gestellt. Deutschland hat aber noch eine Verantwortung, der es sich nicht länger entziehen kann.