Zehntausende Menschen sind in der Türkei bei den verheerenden Erdbeben vom 6. Februar ums Leben gekommen. Vereinzelt werden immer noch lebende Verschüttete geborgen. Währenddessen gerät die türkische Regierung in Kritik, die Opposition tritt nach. Das Volk jammert und übt Kritik! Zurecht?
Nach dem verheerenden Erdbeben ist die Debatte darüber ausgebrochen, wer Schuld und Verantwortung trägt. Immer öfter kommt in den Debatten der Begriff "Amnestie" auf.
Insgesamt 9 Amnestien wurden seit der Republiksgeschichte vom türkischen Parlament zwischen 1984 bis heute verabschiedet. Mal hieß es Bauamnestie (İmar affı), dann wiederum Baufrieden (İmar Barışı). Zuletzt hatte das Große Nationalparlament Anfang Mai 2018 eine Bauamnestie durchgewunken.
Wer fernbleibt, hat auch abgestimmt
Bereits hier wird deutlich, welchen Stellenwert die Baupolitik im Parlament einnimmt bzw., wie die Politik mit diesem Thema an sich umgeht. Am 10. Mai 2018 stimmten die anwesenden Abgeordneten wie folgt ab. 205 AKP-Abgeordnete, 8 CHP-Abgeordnete sowie 4 MHP-Abgeordnete voteten dafür. Ganze 5 Abgeordnete der völkisch-kurdischen Partei HDP dagegen.
Das Besondere daran war bei dieser Abstimmung nicht, wer zur Abstimmung erschien, sondern wer dem fern blieb. 11 Abgeordnete der AKP, 123 der CHP, 6 der IYI, 43 der HDP und 31 der MHP blieben der Abstimmung über das Gesetz zum Baufrieden fern.
Das heißt, es erschienen zwar genügend Abgeordnete zur Beschlussfähigkeit des Parlaments, aber dagegen stimmen wollte offensichtlich niemand gegen diesen Gesetzentwurf, der doch ein Stück weit auch die Politik der Türkei zum Thema Erdbeben prägt. Und so wiegen sich seitdem die ferngebliebenen Abgeordneten in Unschuld, da sie ja - wie sie vorgeben - der Abstimmung nichts beigesteuert haben.
Im Endeffekt steuerten all jene, die nicht bei der Abstimmung am 10. Mai 2018 anwesend waren, sehr wohl dazu bei, dass das Gesetz durchgewinkt wird. War es doch im ureigenen Interesse, mitanzusehen, wie das Gesetz verabschiedet wird.
Sich als Opposition nun hinzustellen und vorzugeben, vor all dem gewarnt zu haben, zieht nicht. Ein Beispiel: wenn der Oppositionschef der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, jetzt vor das Volk tritt und erklärt, man habe vor dieser verantwortungslosen Politik gewarnt, dann muss er zuallererst seine Parteimiglieder Lale Karabıyık, Hüseyin Çamak, Sibel Özdemir, Barış Yarkadaş, Musa Çam, Engin Özkoç, Hayati Tekin und Kadim Durmaz durchschütteln, die bei der letzten Bauamnestie mit „Ja“ abgestimmt hatten. Und den übrigen 123 CHP-Abgeordneten sollte Kemal Kılıçdaroğlu etwas husten, damit sie bei der nächsten Abstimmung anwesend sind, um ein Zeichen zu setzen.
BBP reichte bereits nächste Amnestie ein
Die nächste Amnestie, die unter der Überschrift "Bauamnestie" von Mustafa Destici, dem Vorsitzenden der Büyük Birlik Partisi BBP, bei der Parlamentskommission am 11. Oktober 2022 eingereicht wurde, ist die Fortsetzung dessen, was man auch innerhalb der Opposition unter Entgegenkommen gegenüber den vielen Bürgern versteht.
Mit diesem jüngst eingereichten Entwurf zur Bauamnestie, wird deutlich, von wem die Volksvertreter eigentlich getrieben werden: vom Volk selbst, die mit illegalen Schwarzbauten vom öffentlichen Versorgungsnetz abgekoppelt sind oder Bauten haben, deren Eintragung im Grundbuchamt nicht erfolgt, weil sie ungesetzlich Anbauten oder Veränderungen vorgenommen haben.
Der Druck von unten nach oben
Der Druck auf sämtliche Parteien in den jeweiligen Städten, Gemeinden und Kommunen wird quasi vom Volk ausgeübt. Die Abgeordneten sind die Getriebenen. Inzwischen haben aber auch die Abgeordneten gelernt, verantwortungsbewusste Bevölkerungsschichten wie auch Interessen-gesteuerte (jene, die auf Legalisierung hoffen) Bevölkerungsteile unter einen Hut zu bringen. Während man gegenüber dem verantwortungsbewussten Bürger vorgibt, unter anderem für Erdbebensicherheit zu stehen und daher dahingehend Abstimmungen fernbleibe, gibt man dem Interessen-gesteuerten Bürger zu verstehen, bei wem sie mit ihrem Anliegen Erfolg haben werden.
Es geht auch anders
Bürgermeister Ökkeş Elmasoğlu (CHP) ist ein Paradebeispiel dafür, wie man die Politik gestalten kann, um die Bevölkerung zu sensibilisieren. Die Stadt Erzin liegt mitten im Erdbebengebiet im Norden der Provinz Hatay. Doch dort, in seinem Einflussgebiet ist die Lage nicht so dramatisch wie in anderen Provinzgebieten. Trotzdem ist auch hier die Not groß, sieben Opfer sind in der rund 40.000 Einwohner-Gemeinde zu beklagen. Das die Todesrate so gering ist, liegt an der Durchsetzungskraft des Bürgermeisters: Er zeigte Schwarzbauten die rote Karte, duldete keine anderen illegalen Machenschaften im Baugewerbe und setzte damit die Bauvorschriften wie auch die Bauverordnung akkurat durch.
Ein grundlegendes Umdenken muss in der Türkei stattfinden. Nicht nur in der Politik, sondern vor allem innerhalb der Bevölkerung, die die Bauverordnungen und Bauvorschriften zu Herzen nehmen muss oder wie im Fall der Stadt Erzin als Kontrollorgan, sich mit rigorosen Maßregeln durchsetzen muss.