Erdbeben - hört auf von Staatsversagen zu sprechen

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Ohnmacht und Wut herrscht in den von Erdbeben betroffenen zehn Provinzen der Türkei. Aber als Außenstehende von „Staatsversagen“ zu sprechen, spielt nur der türkischen Bevölkerung und Erdoğan zu.

Wenn man schon wieder mit altbekannten Narrativen konfrontiert wird, die im politisch-medialen Diskurs des Westens über meine Heimat kultiviert werden, dann frage ich mich erstaunlicherweise immer, welche Idioten das sind, die meinen, mit diesen Narrativen die türkische Bevölkerung dahingehend erreichen zu können, ein Machtwechsel herbeizuführen.

Medienwirksam von „Staatsversagen“ zu sprechen spielt zudem politischen Akteuren in die Hände, die wie beim Vorsitzender der Zafer Partei, Ümit Özdağ, nach hinten losgeht. Für so etwas ist die türkische Bevölkerung nicht empfänglich, weshalb sich Wut und Empörung zuallererst bei solchen Figuren entladen, die diese Narrative verbreiten und die ohnehin polarisierte Wahlkampfpolitik anschaulich über ventilieren lassen. Solche Figuren hat die Türkei zur Genüge, womit die Bevölkerung sich bereits beschäftigen tut.

Es gibt z. B. eine Gruppe, insbesondere aus der TV- und Musikbranche, die sich als Helfer gerieren und Vereinzelte sich darin als Ersatzstaat ausgeben, in dem sie von „Staatsversagen“ sprechen und zu Spenden für ihre wohltätigen Zwecke aufrufen, während sie staatliche Stellen, Rettungskräfte und freiwillige Helfer verunglimpfen oder denen Untätigkeit vorwerfen. Sie bringen nicht nur die Gruppe in Verruf, sondern in eine verflixt schlimme Situation.

Jüngst geriet diese Gruppe ins Fadenkreuz der Erdbeben-Opfer, weil sie dafür verantwortlich gemacht werden, einen Fake über einen bevorstehenden Dammdurchbruch in Hatay verbreitet zu haben, der dafür sorgte, dass die in Panik geratene Bevölkerung die Flucht ergriff, Helfer Trümmerberge und damit Verschüttete aufgaben, um das eigene Leben zu retten. Nun wirft man dieser Gruppe vor, Menschen das Leben gekostet zu haben.

Die Mehrheit glaubt nicht an jeden Mist, den bestimmte türkische oppositionelle Medien im Land unter dem Vorwand der „nationalen Solidarität“ verbreiten, um der Regierung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dazu tragen vor allem flinke Faktenfinder bei, die über soziale Medien Fakten-Checks vornehmen. Vor allem glaubt die Bevölkerung schon lange nicht mehr an westliche Medien, die ungefiltert aus dem schon ohnehin stark polarisierten türkischen Wahlkampf, in die Welt posaunt und damit für Resonanz sorgt.

Es ist doch recht befremdlich, wenn man Mitanschauen muss, wie im Westen sich eine breite Masse aus dem Sofa heraus zum Experten aufschwingt, obwohl es die Sprache nicht beherrscht sowie über keine tieferen Kenntnisse über Hintergründe und Zusammenhänge im Labyrinth der türkischen Politikkultur verfügt. Das ist aber nicht wirklich verwunderlich, angesichts der medialen Schnappatmung im Westen, die nicht gewillt ist, ein unvoreingenommenes und authentisches Bild über die politischen und gegenwärtigen Verhältnisse in der Türkei und den Erdbeben zu machen.

Wer z. B. das Schlagwort „Kentsel dönüşüm“ im Kontext der türkischen Erdbeben-Präventionspolitik nicht kennt, sollte sich bei medialen Exkursionen heraushalten oder einen Experten aus der Türkei zu Rate ziehen. Ansonsten laufen diese Medien Gefahr, als Instrument wahrgenommen zu werden, die über die heimische Diskussion ein schräges Bild aufbaut und in die Welt sendet.

Das westliche Erdoğan-Bashing klammert bewusst sehr viele politische Programme aus, die die türkische Regierung seit 2002 aufzubauen versucht. 2012 wurde ein Gesetzespaket verabschiedet, mit dem die landesweite Bausubstanz sukzessive erdbebensicher gemacht werden soll. Das Projekt, das seither im politischen türkischen Diskurs unter dem Schlagwort „Kentsel dönüşüm“ firmiert, ist auf Jahrzehnte angelegt und sorgt seitdem für kontroverse Diskussionen.

3,2 Millionen Gebäude wurden seither saniert oder abgerissen und neu gebaut, 1,5 Millionen sollen bis zum Jahr 2035 hinzukommen. Das sind Zahlen, die der zuständige Minister zufälligerweise einen Tag vor diesem großen Doppelbeben veröffentlicht hat. In Istanbul wurden seither 300.000 Bauwerke erdbebensicher gemacht, aber Tausende, wenn nicht Zehntausende stehen noch aus. Im Erdbeben-Gebiet sind laut Medienberichten alle Bauten des sozialen Wohnungsbaus weiterhin sicher nutzbar; das sind in den 10 Provinzen insgesamt 133.759 vom Toplu Konut İdaresi Başkanlığı TOKİ gebauten Wohnungen.

Man kann sich als Außenstehender kaum vorstellen, dass ein solches Vorhaben auf unzählige Widerstände und Probleme stößt. Und insbesondere Istanbul erweist sich hier als echtes Problem, auch für den Rest des Landes. Es gibt ein Viertel in Istanbul, der mittelfristig komplett dem Erdboden gleichgemacht und dessen Bewohner umgesiedelt werden müssten. Da ist auch mit Erneuerung nichts mehr zu machen, da der Untergrund keine erdbebensichere Konstruktion möglich macht. Das sind auch nur geschätzt mal eben eine halbe Million Menschen, für die man im ohnehin chronisch überbevölkerten Stadtgebiet Wohnraum schaffen müsste.

Das sind gewaltige Herausforderungen, die da noch anstehen und Ressourcen und Kapazitäten binden, die andernorts wiederum fehlen würden. Man kommt aber nach dem Doppelbeben in Kahramanmaraş leider nicht umhin, Gebieten wie Istanbul Priorität einzuräumen. Istanbul hat sich zum Herzschrittmacher der Türkei entwickelt, eine Entwicklung die unaufhaltsam fortschreitet. Jedes Erdbeben, dass diese Stadt treffen würde, hätte verheerende Auswirkungen auf die Entwicklung der Türkei selbst. Aber wenn der Fokus nur auf Istanbul gerichtet wird, was wird dann mit der Entwicklung im Rest des Landes? Vor solchen immensen Herausforderungen steht ein Land, die nebenbei mit weiteren geopolitischen Herausforderungen konfrontiert wird und in Sachen Naturkatastrophen, Entwicklung wie auch Wirtschaftskraft nicht einmal im Ansatz mit Japan verglichen werden kann.

Erdbeben wie diese wurden von der Fachwelt bislang vorrangig für die Region um diese Megametropole prognostiziert. So ist Erdbebenprävention ein Wettlauf mit der Zeit, bei dem der Fokus notgedrungen zu sehr auf Istanbul lag; auf Kosten der anderen Regionen. Man könnte diese Thematik tatsächlich sehr kontrovers diskutieren, Stärken und Schwächen erörtern, Vor- und Nachteile ausarbeiten. Aber daran besteht, wie man in westlichen Medien sieht, überhaupt kein Interesse. Stattdessen interessiert man sich dafür, wie man der Regierung „Staatsversagen“ attestieren kann, ohne dabei eine seriöse und fundierte Meinung zur Frage „Erdbebenprävention Türkei“ kundzutun. Es gibt also keine Lösungsansätze, sondern hier liegt der Fokus schlichtweg darin, das Versagen des „Staates“ zu unterstreichen. Was stimmt hier nicht?

In den letzten zehn Jahren hat man immer deutlicher gespürt, mit welchen westlichen Etiketten und Narrativen die türkische Regierung konfrontiert und diese im eigenen heimischen Gefilde kultiviert wurde. Das geht an der türkischen Bevölkerung nicht spurlos vorbei. Der Durchschnittsbürger sucht sich in der Not immer eine starke Führungshand und keine, die ihn mit Narrativen zupflastert, mit Horrorgeschichten aufzieht, mit Schwarzmalerei begegnet. Nur in der Wohlfühlphase, strebt der Durchschnittsbürger nach mehr Wohlstand und Freiheit, entscheidet sich für einen Wechsel, um diese auszuprobieren. Bei einer Negativphase sind finanzielle Anreize (bzw. Versprechen eine sichere Sozialwohnung zu bekommen) oder eine relativ bekannte stabile politische Linie ausschlaggebend, wen man wählt. Die türkische Opposition hat dieses Bild eines stabilen Bündnisses nicht ansatzweise erbracht. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat bereits deutlich gemacht, was er nach diesem Doppelbeben tun will: die Menschen wieder unter Dach und Fach bringen. Das hat er mit einem Versprechen unterstrichen. Die Menschen setzen also auf eine Zukunft, auf Hoffnung, auf weitere Überlebende, die inmitten der Trümmerberge auch nach 165 Stunden, gerettet werden können. Nicht auf Schwarzmalerei, verstörende Zukunftsaussichten.

Hier fragen sich viele türkische Beobachter zurecht, wie deppert westliche Medien sein müssen, um solchen Statisten mehr Gehör und Raum zu schenken, die diese Blase aufzubauen versuchen, jedoch damit bei der türkischen Bevölkerung versagen. Die gegenwärtige westliche mediale Empörungsblase spielt doch jetzt erst so richtig in die Hand des starken Staates zu, sprich Recep Tayyip Erdoğan. Eine Naturkatastrophe wie diese ist eben kein Mittel zum Zweck, es der Regierung anzulasten. Eine oppositionelle türkischstämmige sogenannte Expertengruppe im Westen kann nur als verlängerter Arm einer Opposition verstanden werden, die doch genau aus diesen Gründen bei allen bisherigen Wahlen gescheitert sind.