Türkische Wahlen: 2 vs. 6+1 und Haustürken

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Das türkische Oppositionsbündnis hat 104 Tage vor den Wahlen in der Türkei noch keinen Spitzenkandidaten. Aber es wird noch interessanter. Die Oppositionsparteien müssen noch ihre Mandatslisten gegeneinander durchsetzen. Allein die CHP will 50 Abgeordnetenmandate für Istanbul aufbieten, bei rund 90 zu vergebenden Mandaten.

Streit um Mandate vorprogrammiert

Die Mandatsliste für die Provinz Istanbul, hat die CHP über die Istanbuler Vorsitzende Canan Kaftancıoğlu bereits vorgestellt. Dabei sind die Mitgliedsparteien des Oppositionsbündnisses am 6´er Tisch sowie die völkisch-kurdische HDP und anderen Kleinparteien noch nicht inbegriffen, geschweige denn die der amtierenden Regierungskoalition AKP und MHP. Der Streit innerhalb der Oppositionsparteien und des Bündnisses ist daher vorprogrammiert und wird bei Popcorn und Ayran mit entzücken verfolgt werden.

Angesichts der angespannten Situation am Tisch, noch keinen Spitzenkandidaten vorstellen zu können und nun die Mandatslisten vor sich zu haben, die man noch ausknobeln soll, eine wirklich verzwickte Lage.

CHP buhlt um Graue Wölfe

Aber es kommt noch besser. Während die deutschen Wahlkampfhelfer der Opposition, inklusive der völkisch-kurdischen PKK, den Koalitionspartner MHP mit den Grauen Wölfen und Idealisten in Verbindung bringen und mit der AKP eine islamistisch-ultranationalistische Parteilinie attestieren, sucht das Oppositionsbündnis in der Türkei geradezu die Nähe zu den sogenannten Grauen Wölfen.

Wie Marion Sendtker von der ZEIT feststellt, buhlt die „eher linke CHP um die Nationalisten“ der MHP bzw. Idealisten. Der CHP und seinen Bündnispartnern sind die nach deutschem Verständnis verklärten „Ultranationalisten“ in der Türkei die „am meisten respektierten Gruppen“, so Sendtker weiter. Und Sendtker fügt hinzu, dass die Bewegung in Deutschland mittlerweile weniger mit den Idealisten in der Türkei zu tun habe, als man von einigen Haustürken noch vermittelt bekommt.

CHP-Abgeordnete bezeichnet seine Partei als faschistisch

Sich nicht richtig verkaufen können, das ist ein großes Problem des türkischen Oppositionsbündnisses. Noch gravierender ist aber die Situation nach den Haustürken die der oppositionellen Abgeordneten, deren Geschichts- und Realitätsferne Bände spricht. Der CHP-Abgeordnete Mehmet Bekaroğlu rüttelte doch tatsächlich an den Fundamenten der eigenen Partei. Dafür gab es dann in den sozialen Medien einen auf den Rüffel. Was war passiert?

Mehmet Bekaroğlu hatte in einem Tweet den politischen Sturz der CHP als Sieg von Adnan Menderes (Demokratische Partei DP) über das „faschistische“ Einparteiensystem bezeichnet. Sprich, er eckte an der Wahlniederlage der CHP von vor 73 Jahren an, und damit auch an Atatürk und Ismet Inönü, die er im Grunde als Faschisten bezeichnete.

Die Parteibasis der CHP zeigte sich brüskiert über den Tweet von Mehmet Bekaroğlu und der nahm den Tweet kurzerhand offline, um sich dann schleunigst davon zu distanzieren.

Es wird noch besser. Die CHP kam doch tatsächlich auf die Schnapsidee, den Wahlspruch von Adnan Menderes von 1950 zu kopieren und es an der Fassade der CHP-Zentrale großflächig als eigenen Wahlspruch zu verkaufen. Da kann man nur noch mit dem Kopf schütteln!

CHP-Bürgermeister ernennt Landesverräter als journalistischen Märtyrer

Wie schlimm es innerhalb der CHP in der Frage der Geschichtsferne geht, zeigt ein weiteres Beispiel: Die CHP-Führung des Istanbuler Stadtteils Kadıköy ernannte während der Gedenkveranstaltung zum Todestag von Uğur Mumcu auch Ali Kemal posthum zum journalistischen Märtyrer der Türkei.

Tja, die Besucher des Caddebostan-Kulturzentrums waren einer anderen Meinung, schließlich gehörte Ali Kemal der Fraktion an, die während des türkischen Befreiungskrieges gegen die Kuvâ-yi Milliye opponierte. Daraufhin wurde Ali Kemal wegen Landesverrat und wegen Agententätigkeit für eine feindliche Macht am 6. November 1922 zum Tode verurteilt.

Der CHP-Bürgermeister von Kadıköy, Şerdil Dara Odabaşı, konnte so schnell nicht umschalten, wie die Besucher der Veranstaltung zur Kritik übergingen und die posthume Erklärung mit Buhrufen quittierten. Odabaşı konnte sich nur noch damit rechtfertigen, den Redebeitrag selbst nicht durchgelesen zu haben, weshalb es zu diesem Missverständnis gekommen sei. Wer es glaubt!

Türkische Journalisten schauen ohnmächtig zu

Wie auch immer man zur türkischen Opposition, angesichts der Anhäufungen von Eigentoren, der kurzen Vorlaufzeit bis zu den Wahlen und den Akteuren innerhalb des Bündnisses sowie außerhalb des Landes, steht, man kann sie wirklich nicht beneiden. Wie Hikmet Genç von der Tageszeitung Aydınlık sarkastisch richtig konstatiert, sollte die Opposition ohne einen Spitzenkandidaten antreten; damit die Wahlpropaganda auch fair für alle verläuft.

Ergo, es gibt innerhalb der Türkei keine Opposition, geschweige denn, einen Oppositionellen, der das Kaliber einer AKP oder eines Recep Tayyip Erdoğan hat. Das muss sogar ein weltweit renommierter Journalist wie Murat Yetkin sich eingestehen, der in der französischen Tageszeitung Le Monde mit den Worten wiedergegeben wird, das Oppositionsbündnis „… heute eher gegen sich selbst als gegen die Regierung“ kämpft.