Sotschi - Die Abhängigkeit zwischen Putin und Erdoğan

Zu lesen in den Sprachen: GERMAN

Die Türkei, einst einer der härtesten Gegner Moskaus unter den NATO-Staaten, hat sich innerhalb weniger Wochen zu einer einzigen Brücke Russlands zur westlichen Welt gemausert. Je länger der Krieg in der Ukraine anhält, je mehr die gegenseitigen Sanktionen ausgeweitet werden und greifen, desto mehr rückt die Türkei in den Vordergrund. 

Das heutige Treffen der Präsidenten Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan in Sotschi fand keineswegs vor dem Hintergrund gegenseitiger Zuneigung statt. Die politische Karriere des neuen "Russlands bester Freund" Erdoğan - wie es Putin zu verstehen gab - hat einen Makel. Der türkische Staatschef hofft insgeheim, dass "Freund Wladimir" ihm helfen wird, den Sturm der über der Türkei wabert, zu überstehen.

Die Tourismussaison boomt, ein reichhaltiges Buffet im Hotel, All-inclusive Orgien, das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, was abseits der Hotelmauern die Menschen in der Türkei derzeit stemmen müssen. Das Land befindet sich im Würgegriff einer Inflation, die nach über 20 Jahren wieder seinesgleichen sucht. Die Inflation erreichte im Juli ein Niveau von 79,6 Prozent. Zum Vergleich: In Russland war die Inflation im Jahr 2022 ebenfalls bei einem Rekordhoch der letzten Jahre, aber dieser „Rekord“ liegt immer noch bei 15 Prozent.

Bis Juni 2023 muss Erdoğan seine Erfolgswelle aufhübschen, denn dann stehen sowohl die Präsidentschafts- als auch die Parlamentswahlen an. Die Inflation, die bisher keine Tendenzen zum sinken zeigt, ist dafür nicht die beste Visitenkarte. Dementsprechend muss Erdoğan auf verschiedenen Feldern möglichst viele spektakuläre Erfolge erzielen. Und er hofft, dass Russland ihm dabei helfen wird, einen solchen Erfolg zu erzielen. 

In ruhigeren Jahren hätten beide Seiten sich noch gedacht, was es einen kümmert, worauf der andere zählt. Gegenwärtig kann sich aber weder Putin noch Erdoğan sich solch einen Luxus leisten. Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Beziehungen Russlands zu seinen traditionellen europäischen Partnern innerhalb der NATO, ist die Türkei für Putin inzwischen fast zur wichtigsten Brücke zur westlichen Welt geworden. 

Putin hofft insgeheim, dass die Türkei wenn möglich Importe aus Europa nach Russland einfädelt. Ein Abkommen, das für Russland wie auch für alle anderen von Vorteil wäre, wie derzeit ukrainisches Getreide wieder die Weltmärkte, darunter auch Europa erreicht. Auch hier half die Türkei, was Putin heute ausdrücklich zu würdigen wusste. Vor Beginn des Treffens in Sotschi am Freitagnachmittag, erklärte Wladimir Putin öffentlich, Europa müsse sich bei Erdoğan bedanken.

Putin kann sich auf Erdoğan verlassen, sei es in Zusammenhang mit Turkish Stream, die im Gegensatz zum europäischen Pendant Nord-Stream 1 und Nord-Stream 2 tadellos funktioniert oder dem offenen Bosporus. Derzeit kann Putin die Daumenschrauben gegen westliche Sanktionen halten, aber nicht noch weiter erhöhen, weil es dann nichts mehr gibt, die als eine Verhandlungsmasse dienen könnte. Es ist auch unwahrscheinlich, dass die Türkei als Energiehub vom Westen akzeptiert wird, was ja an den beschränkten Mitteln Russlands liegt. Anders als Putin wird Erdoğan von den NATO-Staaten immer noch als Einer der Ihren wahrgenommen – allerdings als der Eine der Ihren, der angeblich nicht zu weniger Irritationen sorgt als die distanziertesten und heimtückischsten Fremden. 

Ein sehr wichtiges Merkmal der aktuellen Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen ist nicht einmal die gegenseitige Irritation, sondern der komplette Verlust der Fähigkeit, miteinander, zumindest über etwas zu verhandeln. Aber die Konfrontation muss beherrschbar bleiben. Daher sind Verhandlungen – wenn auch indirekt – nach wie vor unvermeidlich und wichtig für Russland. Erdoğan hat es geschafft, diese Nische eines solchen unvermeidlichen Unterhändlers zu besetzen, während andere Staatschefs in Europa die Kriegstrommel längst ausgepackt und eingestimmt hatten. Nun können sie nicht mehr von ihrem Standpunkt abrücken, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Diese Leistung von Erdoğan erklärt sich nicht nur durch die Besonderheiten der internationalen Position der Türkei und ihrer außenpolitischen Interessen, zumal die Türkei von der NATO-Riege weiterhin stiefmütterlich behandelt wird. 

Ein ebenso wichtiger Grund ist die gegenseitige Kompatibilität von Putin und Erdoğan als Staatschefs. Bei all den Widersprüchen, die sich zwischen Moskau und Ankara angesammelt haben und noch anhäufen, sprechen diese beiden Politiker dieselbe Sprache, kennen, verstehen und respektieren sich. Es ist fast sicher, dass Erdoğan Moskau mehr als einmal bewiesen hat, dass es nicht die klügste Idee ist, ihm den Rücken zu kehren. In der aktuellen Situation gibt es für Putin keine andere Wahl, Erdoğan in Ankara an der Macht zu halten und dafür Zugeständnisse zu machen, das Erdoğan als Erfolg verbuchen kann.

Das heutige Treffen zwischen Putin und Erdoğan in Sotschi dauerte hinter verschlossenen Türen 4 Stunden. Im Anschluss daran gab es eine gemeinsame Pressemitteilung, in der zuallererst betont wurde, wie solidarisch sowie entschlossen man im Kampf gegen alle Terrororganisationen in Syrien sei. Laut der Erklärung bekräftigten die beiden Staatschefs ihren gemeinsamen Willen, die türkisch-russischen Beziehungen auf der Grundlage gegenseitigen Respekts und der Anerkennung gegenseitiger Interessen zu wahren. Hat Putin in Sotschi etwa Ankara grünes Licht gegeben?