Syrien: Ist die Türkei am Ende der Fahnenstange?

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Letzte Woche erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, dass er vergangenes Jahr während eines Treffens in Belgrad kurz mit dem syrischen Amtskollegen gesprochen und dabei die Notwendigkeit betont habe, die Opposition und das Regime zu versöhnen. Die Türkei könne dabei eine Vorreiterrolle einnehmen.

Die vergangenen Tage haben gezeigt, dass die Notwendigkeit, Syrien zu befrieden, mehr denn je den Tagesordnungspunkt in der Türkei eingenommen hat - auch im Hinblick auf die Flüchtlinge im Land. Nachdem der türkische Außenminister nach dem Treffen mit dem diplomatischen Corps der Türkei, erklärt hatte, dass es einen kurzen Standgespräch mit dem syrischen Außenminister gab, in der er die Notwendigkeit einer Versöhnung betont habe, gab es unterschiedliche Reaktionen darauf.

„Solidarität mit dem syrischen Volk“

Vereinzelte syrische Oppositionsgruppen waren gegenüber der „Notwendigkeit“ nicht gerade wohlgesonnen und protestierten in Nordsyrien energisch. Ankara versuchte daraufhin die Wogen zu glätten und erklärte, dass die „Solidarität mit dem syrischen Volk“ Bestand habe. Mevlüt Çavuşoğlu sah sich genötigt, die „Notwendigkeit“ mit einem „Kompromiss“ abzuschwächen. Çavuşoğlu erklärte, dass eine politische Einigung zwischen Damaskus und der Opposition der einzige Weg sei, den Konflikt zu beenden.

Mehrheit für eine Lösung des Syrien-Konflikts

In der Türkei wurde dieser überraschende Vorstoß der Regierung als Paradigmenwechsel verstanden und bei nahezu allen politischen Lagern mit Interesse aufgenommen. Von der linksgerichteten Tageszeitung Evrensel bis hin zur rechtskonservativen Flügelzeitung, alle betonten, dass die Zeit gekommen wäre, das Land zu befrieden.

Nur eine einzige marginale Tageszeitung, die Yeni Yaşam, sprach sich gegen die Absicht aus, zwischen dem syrischen Regime und der Opposition als Vermittler aufzutreten und die Lager zu Kompromissen zu drängen.

Der lange Weg zum Frieden ist noch nicht beschritten

Doch der Weg ist lang und noch gibt es keine offiziellen Kontakte zwischen Ankara und Damaskus. Es stehen offenbar nur die Nachrichtendienste beider Länder sporadisch in Kontakt, was erst einmal nichts zu bedeuten hat. Laut Çavuşoğlu hatte der russische Präsident Wladimir Putin lange versucht, Recep Tayyip Erdoğan zu einem Gespräch mit Baschar al-Assad zu bewegen, aber der türkische Präsident habe nur Kontakten zwischen Nachrichtendienstmitarbeitern zugestimmt. „Einmal fand ein Treffen zwischen Geheimdiensten statt. Dann gab es Unterbrechungen, und jetzt haben sie wieder angefangen“, sagte Çavuşoğlu weiter.

Wie diffus die derzeitige Lage ist und wie schwierig die Situation zu meistern ist, zeigt die Dimension der Komplexität dieses Bürgerkrieges. Aber langwierige Probleme erfordern langwierige Lösungsansätze. Das bestätigte indirekt auch Hayati Yazıcı, der stellvertretende Vorsitzende der AKP: „Ich kann nicht sagen, dass dies [Treffen auf höchster Ebene] niemals eintreten wird. Es könnte aber auf einer bestimmten Ebene beginnen und später auf eine höhere Ebene angehoben werden.“

Putins Formel

Offensichtlich unterbreitete Putin während des trilateralen Treffens in Teheran im vergangenen Juli Erdoğan eine andere Formel, um den Sorgen Ankaras gerecht zu werden und entgegenzukommen. Demnach gab Putin unter anderem zu verstehen, dass das syrische Regime und Moskau eher darüber hinwegsehen würden, wenn Ankara statt mit Bodentruppen, mit Drohnen die Führungsebene der Volksverteidigungseinheiten (YPG) verfolgen und bekämpfen würde; was auch die aktuelle Lage in Nordsyrien wiedergibt. In nur wenigen Tagen nach dem Treffen stieg die Anzahl der Drohneneinsätze rapide an, wurden etliche Terroristen „neutralisiert.“

Punkt zwei der Formel Putins sehe vor, dass Ankara vor einer Bodenoffensive in Nordsyrien sich zuerst einmal mit dem syrischen Regime in Moskau trifft und die türkischen Forderungen anhört. Als nächster Schritt müsse Ankara und Damaskus das Adana-Abkommen aus dem Jahre 1998 wieder hervorholen und unter den gegenwärtigen Bedingungen erneut aushandeln. Dabei geht es vor allem darum, dass die politische Annäherung ebenfalls angesprochen und erörtert wird.

Als Nächstes sollen demnach US-amerikanische Bodentruppen aus Nordsyrien weggedrängt werden. Das gehe, in dem man die SDF von den USA los trenne. Putin habe demnach in Aussicht gestellt, die SDF gänzlich unter die Kontrolle des Regimes zu stellen, während das Vakuum vermehrt durch Regimekräfte gefüllt werde. Dieser Schritt sei der SDF bereits angedeutet worden.

In der Folge werde Moskau im Gegenzug ihre Angriffswaffen wie Raketenrampen um Tal Rifaat oder Afrin zurückziehen, die derzeit einerseits die Freie Syrische Armee (FSA) sowie indirekt auch die dort stationierten türkischen Bodentruppen bedrohen. Den bisher durchgesickerten Informationen zufolge, verbindet Moskau diesen Schritt aber mit weiteren Deals wie dem Getreide-Deal, der zwischen der Ukraine und Russland vereinbart wurde sowie mit dem Genfer-Friedensgesprächen zum Syrien-Konflikt.

Einigkeit vs. Freiheit

Es scheint, dass nicht nur Brüssel gegen eine neue militärische Offensive der Türkei in Nordsyrien ist. Auch Moskau, Teheran und Washington haben ihrerseits unterschiedliche Gründe, gegen die türkische Absicht zu sein, in Nordsyrien erneut einzumarschieren.

Die unterschiedlichen Beweggründe vereint nur eines: Die Türkei darf nicht einmarschieren. Der ehemalige französische Außenminister Bernard Kouchner und der Dokumentarfilmer und Abenteurer Patrice Franceschi forderten den Westen in einem Appell nun erneut auf, entschieden gegen eine neue Militäroperation Ankaras vorzugehen.

Wenn wir die Türkei in Syrien-Kurdistan einmarschieren lassen, können wir uns der Rückkehr des Islamischen Staates sicher sein.

Putin scheint andere Beweggründe zu haben. Vor allem mit dem Ausbruch des Ukraine-Konflikts hat sich Nordsyrien für Moskau als Verhandlungsmasse erwiesen. Und Washington versucht, die schiitische Einflusssphäre und nebenbei die türkischen geopolitischen Interessen beschneiden zu wollen.

Die Freiheit nahm sich Ankara bislang

Wird diese Konstellation Ankara davon abhalten, nach 2016, 2018, 2019 sowie 2020, erneut eine militärische Operation zu starten? Für Ankara gab es bislang jedenfalls trotz energischer Proteste und Warnungen keinen triftigen Grund, eine angedrohte begrenzte militärische Boden-Operation abzublasen. Zeitpunkt und Umfang der Operationen bestimmte die Türkei bisher stets selbst. Und zwar immer dann, wenn Abmachungen, Zusagen oder Lösungsansätze von Dritten nicht eingehalten wurden; sprich Moskau oder Washington.