Der Vertrag von Montreux ist kein Machtinstrument

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zögert weiterhin mit der Schließung der Bosporus-Meerenge für russische Kriegsschiffe. Die Frage ist für die Türkei sehr heikel, zumal der Vertrag von Montreux bislang den Frieden in der Region wie auch weltweit gesichert hat. Es ist von elementarer Bedeutung, sich nicht dem Druck aus dem Westen zu beugen, nur um Russland in der kriegerischen Auseinandersetzung mit der Ukraine endlich zur Räson zu bringen.

Wer die russischen Interessen und ihr derzeitiges Verhalten verstehen will, muss die Karte auf dem Tisch ausbreiten, sich den Kalten Krieg vergegenwärtigen und in Erinnerung rufen, welche Nationen sich seit dem Zerfall der UDSSR sich für die NATO entschieden haben oder beabsichtigen, in diesen Kreis aufgenommen zu werden.

Das Ergebnis ist ernüchternd wie gefährlich zugleich. Denn, der Nachfolgestaat der UDSSR, Russland, wurde seit dem Zerfall von der Ostsee wie auch von der eurasischen Meerenge nahezu verdrängt. Jetzt geht es ins Eingemachte: das Schwarze Meer. Allein die Option der NATO, der Ukraine die Türe offenhalten zu wollen, grenzt an Wahnsinn. Zumindest sehen es die Experten in der Türkei so, die aus dem militärischen wie auch politischen Umfeld kommen.

Das Problem an sich ist, dass diese Option der NATO ermöglichen könnte, sich im Schwarzen Meer festzusetzen, an der ukrainischen Küste Marinestützpunkte zu unterhalten. Das wird Russland zu verhindern wissen, die Halbinsel Krim, die Küstenstadt Odessa und sämtliche Kleinhäfen entlang des Meeres, wenn nötig, okkupieren.

Das ist eine geostrategische Regel, die sich wie ein Gewohnheitsrecht festgesetzt hat. Vor allem Russland, das in der Geschichte 3-mal besetzt bzw. fast erobert wurde - 1812 von der napoleonischen Armee, 1853 während des Krim-Kriegs und 1941 beim Einmarsch Hitlers - zeigt angesichts dieser Entwicklungen, unter welchem Syndrom dieses große Land noch immer leidet und nicht willens ist, es zu vergessen.

Der Ukraine die Option offenzuhalten, ein weiteres NATO-Mitglied zu werden, bedeutet für Russland faktisch den geopolitischen Zusammenbruch. Das würde bedeuten, dass die Russen das einzige noch kontrollierte Meer - das Schwarze Meer - mit der NATO teilen müssten. Ein Großteil der Importe und Exporte in oder aus dem Land erfolgt über die Bosporus-Meerenge. Über 3 Millionen Barrel Erdöl werden über die Meerenge täglich befördert. Die Meerenge wird bereits von einem NATO-Mitglied kontrolliert, aber hier sitzt ein bislang verlässlicher Nachbarstaat, der sich ihrer Verantwortung gerecht wurde: Die Türkei die Frieden erhalten, die Balance wahren will. Das ist die wahre geostrategische Mission der Türkei seit dem Vertrag von Montreux.

Die UDSSR und der Nachfolgestaat Russland haben diesen Vertrag bislang respektiert, wie auch die Türkei die Sensibilität dieses Vertragswerks für die UDSSR und jetzt Russland verstanden und entsprechend umgesetzt hat. Die Türkei hat im Schwarzen Meer seit diesem Vertrag kein einziges Manöver abgehalten und damit Russland in diesem Zusammenhang brüskiert. Sie unterhält keine einzige Marinebasis, die direkt an der Schwarzmeerküste liegt. In gut nachbarschaftlichem Verhältnis respektierte man sich gegenseitig und erhielt so die Balance im Schwarzen Meer.

Im Kalten Krieg bedeutete das u.a., dass die Russen keinen einzigen nuklearen U-Boot durch die Meerenge kreuzen ließen. Heute aber verkehren laut diversen Berichten mindestens 5 russische nukleare U-Boote im Schwarzen Meer, deren Heimathäfen nicht auf den ehemaligen U-Boot-Bunkern auf der Halbinsel Krim liegen.

Was hat Russland also bewogen, die bisherige Haltung mit der Türkei zu überdenken, ja sogar die türkische Sensibilität in den Wind zu schlagen? Die Option der NATO, Rumänien, Bulgarien, Georgien oder die Ukraine aufnehmen zu wollen, wenn sie es denn wünschen! Und zu welchem Preis? Die NATO bzw. deren Mitglieder offerieren diesen Ländern Freiheit und Demokratie; während andere Länder aufgrund dieser Offerte in die Steinzeit gebombt wurden: Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen.

Russland erwartet nun die Gewissheit, dass die geopolitischen Interessen gewahrt bleiben. Sie fordert, dass die Angriffswaffen in ehemaligen Sowjetrepubliken zurückgezogen werden. Russland fordert im Endeffekt, dass der Status von 1997 zurück erlangt wird. Andernfalls wird Russland sich diesen Status Quo zurück erkämpfen und dabei Leid und Elend in Kauf nehmen. Die Frage lautet jetzt, ob die NATO sich auf dieser Basis verständigen kann oder ihre Errungenschaften auf Kosten der Ukrainer durchzusetzen gewillt ist.

Die Türkei ist inzwischen das allerletzte Glied einer Kette, die zwischen Eskalation und Verhandlung von einer Hiobsbotschaft in die andere umschwenkt und zu brechen droht. Es liegt in der Verantwortung der Türkei es nicht weiter eskalieren zu lassen und in Ruhe alle möglichen Optionen auszuloten, danach den Partnern vorzulegen und klarzumachen, was auf dem Spiel steht. Sie muss Russland sowie die Ukraine davon überzeugen, sich entgegenzukommen. Alles andere wird für die Ukrainer noch mehr Leid bringen, während die Elefanten bei ihrem Streit den Rasen zertrampeln und ein Bild der Zerstörung hinterlassen.