Erdoğans Besuch wird für Scholz zur Bewährungsprobe

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kommt am 17. November nach Deutschland. Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Franz-Walter Steinmeier stehen unter Druck. Es geht um „die gesamte Bandbreite politischer Themen“, also um die Gaza-Krise als auch um einen neuen Flüchtlings-Pakt, das diesmal für die EU und USA teurer wird als sonst.

Teurer, weil Erdoğan wie beim Getreide-Abkommen zwischen der Ukraine und Russland eine Schlüsselrolle einnahm und diesmal eine besondere Rolle im Konflikt um Gaza zwischen der Hamas und Israel einnehmen will. Je eher Erdoğan als Schlüssel zur Lösung der Gaza-Krise wahrgenommen wird und Biden, Scholz, Macron oder Sunak ihren uneingeschränkten Solidaritätsposten zu Benjamin Netanjahu verlassen, desto besser.

Der Druck auf die westlichen Regierungschef ist beeindruckend. Die Kürze der Verlautbarung des türkischen Außenministeriums zu Antony Blinkens Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen in Ankara am vergangenem Montag konnte nicht über die Kälte hinwegtäuschen, die diese zweieinhalbstündige Sitzung begleitete. Das zeigt, dass der Druck auf die westlichen Regierungschefs vielfältig ist. Der US-Außenminister musste auf seinen Reisen durch den Nahen Osten, einiges an Wind verkraften, die ihm entgegenschlug. Aber der, der von Hakan Fidan kam, dürfte besonders heftig empfunden worden sein. Ein noch kälterer Empfang blieb Blinken jedoch erspart: Präsident Erdoğan weigerte sich, den Spitzendiplomaten aus Washington selbst zu treffen.

Die Beschimpfungen von Fidan und die Brüskierung durch Erdoğan waren wohlverdient. In ihrem Ringen um Lösungen für die Krise, die durch den Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober losgetreten wurde und die seither mit verheerenden israelischen Vergeltungsmaßnahmen im Gazastreifen gegenüber der Zivilbevölkerung quittiert werden, wurde Ankara von der Biden-Regierung nachlässig vernachlässigt. Es kann jedoch keine Lösung ohne die Türkei geben, die nach all dem Debakel erhebliche Anstrengungen unternehmen muss, dass ein Wettlauf gegen die Zeit ist. Jetzt, wo Washington und Brüssel kostbare Zeit verstreichen ließen, kann Ankara sich zurücklehnen und muss nur abwarten, bis die willigen Helfer des Kriegsherren Netanjahu geläutert an ihn herantreten.

Scholz und Steinmeier werden kommende Woche die ersten sein, die mit Erdoğan vor allem in dieser Frage auf Tuchfühlung gehen werden. Das Ergebnis dieser Gespräche wird Washington ein Gespür dafür geben, ob sie gesichtswahrend in der Gaza-Krise Erdoğan darauf ansprechen werden können oder nicht. Erdoğan erwartet diese Geste, er sprach diese Woche noch davon, dass er Biden nicht anrufe werde, weil das nicht "schick" [geschmacksvoll] sei.

Wenn es erfordert, dass sich der US-amerikanische Präsident direkt an Erdoğan wendet und selbst eine Ohrfeige kassiert, ist das ein geringer Preis für die Chance, sich gesichtswahrend noch aus der Krise abzunabeln, Zehntausende Leben und Dutzende Geiseln zu retten – darunter auch US-Amerikaner, stellte bereits Bloomberg-Kolumnist Bobby Ghosh in dieser Woche fest.

Die Zurückhaltung der Biden-Regierung gegenüber einer Zusammenarbeit mit dem türkischen Präsidenten ist nicht schwer zu verstehen. Erdoğan ist bekanntermaßen – und stolz – schwierig, und zwar in doppelter Hinsicht gegenüber den USA, von denen er glaubt, dass sie ihm nicht den nötigen Respekt zollen, der einer großen Regionalmacht gebührt. Und noch einmal mit Biden, der ihn offen als Autokraten bezeichnete und vorschlug, die USA sollten seine Rivalen ermutigen, ihn bei Wahlen zu besiegen. Biden befand sich damals selbst in einem Wahlkampf, aber das brachte ihm in Ankara auch kein Verständnis dafür ein.

Erdoğan genießt nichts mehr, als den US-amerikanischen Plänen einen Strich durch die Rechnung zu machen, wenn sie denn den türkischen Interessen zuwiderlaufen, wie er es zuletzt mit der Antiterror-Offensive in Nordsyrien, dann bei der Verzögerung des NATO-Beitritts Finnlands und Schwedens gezeigt hatte. Erdoğan hatte wie Biden und seine US-Vorgänger in Zusammenspiel mit dem US-Senat, den Ball an das türkische Nationalparlament geschanzt und erklärt, von nun an müsste man das türkische Parlament überzeugen, dass Schweden in die NATO aufgenommen gehört. Das heißt, diese Angelegenheit bleibt ungelöst: Obwohl die Türkei ihr Veto gegen Finnland aufgehoben hat, hat ihr Parlament der Mitgliedschaft Schwedens noch kein grünes Licht gegeben.

Doch so schwierig Erdoğan auch sein mag, er ist ein wichtiger und der einzige noch verbliebene Akteur, der in den Angelegenheiten des Nahen Ostens unverzichtbar und für die Lösung der aktuellen Krise prädestiniert ist. Er ist der einzige Führer in der Region, der formelle Beziehungen zu beiden Kriegsparteien unterhält: Die Türkei hatte kürzlich noch die angespannten diplomatischen Beziehungen zu Israel wiederhergestellt und bietet dem politischen Flügel der Hamas Sicherheit und Zuflucht vor dem Zugriff Israels.

Vergleiche mit den Positionen der beiden anderen wichtigen Akteuren, auf die sich die USA stützen könnte, stehen aufgrund der eigenen politischen Haltung zu Israel nicht zur Debatte. Katar, Heimat der obersten Hamas-Führung, unterhält keine formellen Beziehungen zu Israel; Ägypten unterhält diplomatische Beziehungen zu Israel, ist jedoch gegenüber der Hamas misstrauisch.

Bezeichnenderweise war Erdoğans Reaktion auf den Terroranschlag der Hamas ungewöhnlich gedämpft. Das türkische Außenministerium veröffentlichte eine Erklärung, in der es „den Verlust von Zivilistenleben“ verurteilte. Ankara beließ es dabei, ohne die Hamas öffentlich in die Schranken zu verweisen. Doha und Kairo taten dies auch nicht; der Hamas-Führung vor den Kopf zu stoßen.

Dass Biden sich nicht direkt nach dem Gespräch mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu an Erdoğan wandte, war ein eklatantes diplomatisches Fehlverhalten. Ebenso hätte Netanjahu den türkischen Präsidenten kurz nach dem Gespräch mit Biden anrufen und darüber informieren sollen. Das Weiße Haus hätte wissen müssen, dass Erdoğan zumindest bei der Freilassung der von der Hamas genommenen Geiseln hilfreich sein könnte.

Stattdessen hielten die USA die Türkei auf Distanz, während sie Ägypten, Katar und andere arabische Staaten um Hilfe und Solidarität baten. Biden rief Erdoğan nicht an und Ankara fehlte auffällig in Blinkens ursprünglicher Reiseroute. Die Biden-Regierung musste gewusst haben, dass Ankara dies als Brüskierung auffassen würde. Und jeder, der die türkische Politik und die Karriere des türkischen Präsidenten verfolgt hat, hätte gewusst, was ihn als nächstes erwartet.

Am 10. Oktober kritisierte Erdoğan Bidens Entscheidung, Kriegsschiffe ins östliche Mittelmeer zu schicken, um seine Unterstützung für Israel demonstrativ zur Schau zu stellen. Daraufhin warnte Erdoğan nach einem Abschuss einer Überwachungsdrohne über Nordsyrien Washington davor, sich zwischen der Terrororganisation PKK und der Türkei zu positionieren. Drei Wochen danach, als Israel ihre Bombardementswelle gegen die Hamas in Gaza startete, hielt der türkische Präsident eine flammende Rede, in der er Israel für die „Tötung von Kindern“ verurteilte und die Hamas als „eine patriotische Befreiungsbewegung, die für den Schutz des palästinensischen Landes und der palästinensischen Bevölkerung kämpft“ bezeichnete.

Als Blinken seine letzte und verspätete Reise nach Ankara antrat, erklärte Erdoğan, dass er nicht mehr mit Netanjahu sprechen werde. Die beiden Staatsmänner hatten sich erst im September zum ersten Mal am Rande der UN-Generalversammlung in New York getroffen. Israel zog daraufhin seine Diplomaten aus der Türkei ab und Ankara wiederum seinen Botschafter in Israel.

Ist es für Biden zu spät, Erdoğan wieder einzubeziehen? Nicht unbedingt! Erdoğan möchte sich unbedingt an den Verhandlungen über Lösungen für die Krise beteiligen; dass ist allein schon der Geschichte der Türkei geschuldet, hier mitzusprechen. Erdoğan hat die Türkei seit Wiederaufflammen des Konflikts stets als Garant für jedes Friedensabkommen zwischen Israel und den Palästinensern angeboten und dabei die Formel angeführt, die zur Beendigung des Bürgerkriegs auf Zypern im Jahr 1960 angewandt wurde. „Wenn Griechenland ein Garantieland sein kann, kann England ein Garantieland sein, und die Türkei ist ebenfalls ein Garantieland in Zypern. Warum kann es in Gaza keine ähnliche Struktur geben?“

Unabhängig davon, ob diese Lösung umsetzbar ist oder nicht, sollte Biden anerkennen, dass Erdoğan bei den Verhandlungen zur Freilassung der Geiseln und langfristig zur Beendigung des Krieges eine entscheidende Rolle spielen kann. Seine offene Unterstützung für die Hamas wird ihm noch mehr Dankbarkeit und damit Einfluss auf die Führer der Gruppe eingebracht haben, und er hat Israel nicht ganz den Rücken gekehrt und türkischen Journalisten gesagt, dass „das Abbrechen aller Beziehungen… keine Option“ sei. Doch wann immer der Krieg endet, wird der Wiederaufbau des zerstörten Gazastreifens erhebliche Beiträge der Türkei erfordern und das Land hat bereits Zusagen hierzu gemacht.

Erdoğan an den Verhandlungstisch gesichtswahrend zu bitten, aus der er zuvor ausgeschlossen wurde, könnte sich für Biden aber auch für europäische Führer auch anderswo auszahlen: Die USA und Europa brauchen die Türkei, um ihre guten Leumund mit Russland zu verbinden, um die Schwarzmeer-Verbindung für ukrainische Getreideexporte wieder zu öffnen, die derzeit brach liegt. Erdoğans Unterstützung für ein Friedensabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung für die USA wie auch Europa, wenngleich Frankreich und der Iran hier in Zusammenhang mit dem Sangesur-Korridor dazwischen grätschen.

Je früher Biden Ankara wieder ins Boot holt, desto besser ist es für die Situation im Nahen Osten und der Ukraine. Je eher Scholz Erdoğan auf Augenhöhe entgegentritt, desto schneller werden die hitzigen, bisweilen schrägen Debatten über EU-Beitritt und die in Deutschland rund drei Millionen lebenden türkischstämmigen Menschen wieder den sachlichen Debatten weichen.