Türkischer Oppositionschef unter Sperrfeuer

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Vor den Kommunalwahlen in der Türkei wächst der Druck auf den türkischen Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) von allen Seiten. Ist der politischer Stern Kılıçdaroğlu`s am Sinken?

Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu will als Parteivorsitzender der CHP in den Wahlkampf zu den Kommunalwahlen im nächsten Jahr ziehen - seinen Posten als Parteivorsitzender will er aber solange behalten - obwohl er die Wahlen im Mai verloren hat. Die Kritik an Kılıçdaroğlu`s Doppelgleisigkeit wächst - auch in den eigenen Reihen.

Es läuft nicht gut für Kılıçdaroğlu, wirklich nicht. War er noch als Hoffnungsträger gegen Recep Tayyip Erdoğan in den Kampf gezogen, muss er nun befürchten, für den Wahlausgang und seinem politischen Kurs zur Abdankung gezwungen zu werden.

Gleich mehrere Persönlichkeiten, die der CHP nahestehen, übten innerhalb kürzester Zeit heftige Kritik an der Haltung und Politik des Oppositionschefs. Offensichtlich eine Reaktion auf die Einladung von Devlet Bahçeli, dem Vorsitzenden der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) an die die İYİ (Gute) Partei, bei den Kommunalwahlen gemeinsam anzutreten. Die İYİ-Partei war bei den Wahlen im Mai noch als Bündnispartner an der Seite der CHP, kündigte aber kurz nach der verlorenen Wahl an, dass sich die Wege trennen würden.

Für Kemal Kılıçdaroğlu ist der Verlust des Bündnispartners unter dem Vorsitz von Meral Akşener ein herber Rückschlag. Es geht um jede Promille, ob in Istanbul oder in den Metropolen entlang der Ägäis und Mittelmeerküste.

Vielen aus der eigenen Reihe der CHP war bereits kurz nach dem Wahlausgang im Mai ein Licht aufgegangen. Unter dem Kampfbegriff 'değişim' (Wandel) setzte sich erst Ekrem İmamoğlu (CHP), der Oberbürgermeister von Istanbul, von Kılıçdaroğlu ab, um ihm hinter vorgehaltener Hand anzudeuten, er möge doch den Chefsessel verlassen. Aufgeschreckt davon, setzten sich auch langjährige Weggefährten von Kılıçdaroğlu allmählich ab, die seit mehreren Wahlen auch die engsten Berater waren.

İmamoğlu setzt zwar seitdem auf den Wandel, aber den Inhalt konnte oder will er bislang nicht füllen. Das irritiert nicht nur die Basis der Partei, sondern auch die Weggefährten. So schwebt über alle der Damoklesschwert, der sich nun auf Kılıçdaroğlu zubewegt und alle anderen dazu veranlasst, sich auf die andere Seite zu retten.

In der CHP wird der Wandel in den Metropolen diskutiert. Anatolien ist da egal. Fındıklı, die einzige CHP-Gemeinde in Rize, wurde 25 Jahre später eingenommen. Der Bürgermeister von Fındıklı, Çervatoğlu, sagt: „Kılıçdaroğlu muss aufhören. Wenn sich nichts ändert, verlieren wir möglicherweise auch Fındıklı.“

Ismail Saymaz - 11. August 2023

Ismail Saymaz, oppositionsnaher Journalist, gibt wieder, was derzeit die CHP-Basis am meisten beschäftigt: die Kommunalwahlen im kommenden Jahr und die derzeitigen Querelen innerhalb der CHP, die seit der verlorenen Wahl anhalten. Die Lösung des Problems, die Saymaz in einem Artikel zusammenfassend als Schlagzeile serviert: 

„Çervatoğlu: Ich hätte losgelassen“

Sözcü - 11. August 2023

Damit ist der Chefsessel gemeint, den Kılıçdaroğlu besetzt hält. Der nächste der aufgeschreckt zur Wählerschaft spricht ist Şaban Sevinç, Journalist und Chefredakteur der Bizim TV. In einer Talkshow auf tv100 gab Sevinç die Worte von Cemal Canpolat wieder. Canpolat war ehemaliger CHP-Parteivorsitzender der Provinz Istanbul. Laut Sevinç sehe Canpolat İmamoğlu als wertvollstes, was die CHP derzeit aufbieten könne, und, dem Volk auch so verkauft werden könne. Sevinç servierte dieses als Eilmeldung, während er Canpolat in höchsten Tönen hervorhob.

Und der nächste, der plötzlich etwas zu sagen hat? Kemal Anadol, einer der schwergewichtigen innerhalb der CHP, ehemals langjähriger Abgeordneter, der in der besten Sendestunde auf CNN Türk als Gast teilnimmt und über Kılıçdaroğlu herzieht, als gebe es keinen morgen mehr.

Bei der Talkshow war von "die Wähler sind keine Automaten", "ich vergib dir nicht", "sogar Ismet Pascha hat abgedankt" bis "Kılıçdaroğlu muss loslassen" war alles dabei. Sprich, Anadol ist ziemlich erregt was den Posten des Vorsitzenden der Partei angeht, der nach vielen Wahlniederlagen noch immer von derselben Person besetzt wird. Und, trotz der letzten vier Wahlen, in der er zuvor bekundet hatte, bei einer Niederlage den Posten anstandslos zu räumen.

Kein Wunder also, dass die Wortführer aus den eigenen Reihen langsam aus der Deckung kommen und die vielbeachtete Generaldebatte über den Wandel und die Besetzung des Parteivorsitzenden mit Kılıçdaroğlu an der Spitze, inzwischen als Irrsinn betrachten. Kılıçdaroğlu, der die Basis wie auch die Provinzdelegierten bislang zu einer gewissen Loyalität verpflichtet hatte und Harmonie auszustrahlen versuchte, muss mitansehen, wie diese immer mehr schwindet.

Offenbar nahezu wirkungslos verhallt sind die mahnenden Worte des Oppositionschefs, man müsse sich gemeinsam auch als Koalition in diesen Krisenzeiten "unterhaken". Diese Koalition, die im Bündnis im Mai gegen Erdoğan angetreten war, gibt es nicht mehr. Bündnispartnerin Akşener warf entnervt das Handtuch und übte heftige Eigenkritik. Die anderen Bündnispartner, die trotz der Promillestimmen drei Dutzend Abgeordnetenmandate von der CHP aushandeln konnten, haben sich ebenfalls still und leise abgewandt.

Kılıçdaroğlu mutiert immer mehr zum Manager einer leeren Hülle, dessen Parteilogo verblasst zu sein scheint. Statt einem strahlenden Präsidenten, der die Transformation hin zur demokratischen Türkei einleiten wollte, geht es nun um einen Diktator innerhalb der Partei, den es zu stürzen gilt. Gerade in dieser Woche kann man geradezu zuschauen, wie Kılıçdaroğlu die Sorgenfalten auf der Stirn wachsen. Wächst ihm auch die Aufgabe über den Kopf?