Das türkische Oppositionsbündnis Sechser-Tisch (Altılı Masa) hat nach den turbulenten Wochen wieder Fahrt aufgenommen, das nach wie vor von Pleiten, Pech und Pannen gezeichnet ist. Kemal Kılıçdaroğlu, oppositioneller Spitzenkandidat gegen den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, wollte ausgerechnet am Tag des Dardanellen-Sieges und zu Ehren der Gefallenen eine Partei besuchen, deren bewaffneter terroristischer Arm seit mehr als 40 Jahren für Gefallene gesorgt hat und weiterhin sorgt. Das ist in etwa so, als würde die SPD am *17. August der NPD einen Besuch abstatten.
Als der Besuchstermin vom türkischen Oppositionsbündnis angesetzt wurde und Kılıçdaroğlu (CHP) zuvor darin nichts Außergewöhnliches fand, hatte wohl keiner innerhalb dieses Tisches diesen bedeutsamen 18. März auf dem Radar; ein Unding, wenn man bedenkt, dass das eigentlich das Metier der CHP ist.
Aber schon zuvor war der Sechser-Tisch nach dem Trubel um Meral Akşener - dem Bündnispartner, der zuletzt den Tisch verlassen hatte oder zum Verlassen aufgefordert wurde - mit dem Wahlkampfprogramm ziemlich krass aufgefallen. Das fiel sogar der ehemaligen CDU-Abgeordneten Cemile Giousouf bei ihrem Türkei-Besuch deutlich auf. Sie erklärte, das Oppositionsbündnis habe „lediglich das Ziel Erdogan abzulösen“, was an und für sich schon ernüchternd sei, so Giousouf.
Aber so karg ist das Wahlkampfprogramm des Sechser-Tisches ja nicht. Es ist sogar gewissermaßen pikant. So will der Sechser-Tisch zusammen mit der völkisch-kurdischen HDP und so manchen Linksextremisten die unabhängige Justiz quasi dazu zwingen, die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umsetzen. Kern dieses Wahlkampfprogramm-Punktes ist und bleibt die Freilassung zwei der bekanntesten Gegner von Erdoğan: des Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş und dem Mäzen Osman Kavala.
Es wird noch delikater. Sollte das Oppositionsbündnis an die Macht kommen, will man die Definition von Terrorismus und die Verfolgung von Terrororganisationen davon abhängig machen, was die anderen dazu zu sagen haben. Sprich, erst wird Europa oder die USA gefragt, dann darf man Terrorismus als solches bezeichnen oder verfolgen.
Eckpunkt des Wahlkampfprogramms bildet auch der EU-Beitrittsprozess. Man will sich demokratisch und rechtsstaatlich geben, um so schnell wie möglich in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Ob das noch in diesem Jahrhundert der Fall sein wird, steht in dem Wahlkampfprogramm jedoch nicht.
Immer wenn es um die HDP und deren bewaffneten Arm, die PKK geht, steht der Sechser-Tisch gehorsamst zur Stelle. Deshalb soll der NATO-Beitrittsprozess Schwedens und Finnlands nicht mehr blockiert werden. Und weil man als Bündnispartner die Bündnis-Treue strenger auffasst als alle anderen Partner zusammen, ist man zwar gewillt, die Vermittlerrolle zwischen der Ukraine und Russland in Zusammenhang mit den Getreide-Abkommen beizubehalten, will jedoch gegenüber Russland noch stärker betonen, dass man ein NATO-Bündnispartner ist.
Und weil die Weltgemeinschaft beim verheerenden Erdbeben von Kahramanmaraş zu Hilfe eilte, will man gegenüber Griechenland einen sanfteren Ton einschlagen und die Konflikte in der Ägäis, im Mittelmeer oder um Zypern mal beiseitelegen.
Das türkische Oppositionsbündnis ist wirklich komisch drauf. Das Land bereitet sich auf die Wahlen in 60 Tagen vor und das Bündnis gibt gegenüber der westlichen Welt in Hochglanzgazetten und A6-Format-Zeitungen bekannt, wie man was in der Türkei politisch zu machen beabsichtige, während man im eigenen Land unentwegt die Erdbeben-Prävention, Erdbeben-Intervention der Regierung verurteilt, ohne eine Silbe darüber zu verlieren, was man selbst besser machen würde oder gedenkt zu tun.
Dabei ist man nicht einmal in der Lage, im IPhone-Kalender den 18. März als Feiertag abzulegen und auf Terminalarm zu stellen, um ja nicht mit anderen Programmen zu kollidieren. Offensichtlich hatte man die Gedenkveranstaltung in Gelibolu oder die Trauerstunde am Grab des unbekannten Soldaten völlig vergessen und wollte stattdessen eine Partei besuchen, die noch vor wenigen Jahren die bewaffneten Unruhen von 2015/2016 zu verantworten hat und die nachgewiesenermaßen einer Terrororganisation namens PKK zuarbeitet. Als dann manche kritischen Stimmen auf den Kalender aufmerksam machten, konnte das Oppositionsbündnis nicht schnell genug den Termin vorziehen und dabei unschlüssige Erklärungen von sich abgeben, um das Affentheater plastisch zu machen.
Aber damit nicht genug. Das eigentlich interessante steht doch im Wahlkampfprogramm selbst, in der man unter anderem nach Wahlgewinn die Definition von Terrorismus oder die Listung als Terrororganisation von da an westlichen Bündnissen und Unionen überlassen will. Das heißt, plötzlich ist dann Nordsyrien nicht mehr von Terroristen der PKK durchseucht, sondern von einer politischen Struktur, die mit Demokratie, Vielfalt und Frauenrechte prahlt, während sie mit westlichen Waffen die Opposition verfolgt, die Demografie der Region verändert und damit Ethnozid betreibt.
Das hat auch einen schlichten Grund: ohne die marginalen Stimmen der HDP und anderen extremistischen Parteien, sieht sich der Sechser-Tisch nicht in der Lage, die Wahl zu gewinnen, um Erdoğan vom Thron zu stoßen. Aber weil auch das nicht ausreichen dürfte, winkt man auch jenen dezent zu, die für den gescheiterten Putschversuch mitverantwortlich gemacht werden: den Mitgliedern der Fethullah Gülen Sekte, die in Europa und in den USA Wahlkampf für den Sechser-Tisch betreiben und darauf hoffen, nach dem Exilleben - wie auch all jene die in der Türkei aus dem Beamtendienst entlassen wurden - wieder zurück in die Türkei zu kommen, um das noch nicht vollendete Werk endlich zu beenden: Erdoğan am Marterpfahl aufhängen.
Dann diese derzeitige unsägliche Debatte des türkischen Oppositionsbündnisses und deren Anhängern darüber, ob die Hüda Par-Partei, der politische Arm einer islamistisch-kurdischen Terrororganisation ist oder nicht, die seit dieser Woche in Tuchfühlung mit der AKP/MHP-Koalition geht, um auszuloten, ob man Erdoğan favorisiert oder nicht. Wenn dem so ist, wieso hatten die Bündnisparteien des Sechser-Tisches vor einigen Jahren diese kurdischen Islamisten bzw. deren Vorsitzenden selbst beklatscht, als dieser beim Gedenktag für Necmettin Erbakan auf die Bühne trat und eine Ansprache hielt? Oder die Konsolidierungsgespräche des Sechser-Tisches mit der Hüda Par, die zuvor hinter verschlossenen Türen abgehalten wurden, was machen wir denn damit, angesichts des bevorstehenden Treffens mit der HDP?
Aber es wird vielleicht noch interessanter; nach dem Besuch vom 17. März. Da wird dann womöglich die Katze aus dem Sack gelassen und bekannt gegeben, was denn die HDP selbst für politische Gegenforderungen, ja sogar welche Posten man haben will, damit Spitzenkandidat Kemal Kılıçdaroğlu favorisiert wird. Es ist also nicht mehr nur eine Mutmaßung, dass die HDP sich hier teuer verkaufen wird. Man muss nur mathematisch zusammenzählen, um zu verstehen, wer auf wen angewiesen ist, um die Wahl mit Ach und Krach doch noch für sich zu entscheiden. Bis dahin dürfen wir uns noch auf weitere Pleiten, Pech und Pannen freuen, die uns die größte Oppositionspartei unter dem Vorsitz von Kılıçdaroğlu seit nunmehr 20 Jahren in den unterschiedlichsten Wahlkampftaktiken vorgeführt hat.
*) Todestag von Rudolf Heß