Tagein, tagaus, seit einem Jahr, sucht die Türkei Antworten darauf, wer bei den kommenden Wahlen gegen den amtierenden Präsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, antritt.
Am 12. Februar 2022, also vor fast einem Jahr, gingen die oppositionellen Parteien CHP, IYI, Saadet, Demokrat, DEVA sowie die Gelecek ein Bündnis ein, um vereint gegen Recep Tayyip Erdoğan anzutreten. Während dieser Zeit ist viel passiert.
Das vor einem Jahr gegründete Oppositionstisch unter dem Namen 6´er Tisch (Altılı Masa) sucht seither in den eigenen Reihen einen Spitzenkandidaten. Bislang ohne Ergebnis. Im Gespräch waren einige Spitzenpolitiker der größten Oppositionsparteien, darunter Kemal Kılıçdaroğlu (CHP), Meral Akşener (IYI), Mansur Yavaş (CHP) oder gar Ekrem İmamoğlu (CHP).
Seit fast einem Jahr haben Hunderte TV-Talkshows darüber sinniert, wer der aussichtsreichste Kandidat sein könnte. Hinter den Kulissen wurden politische Intrigen vermutet, man munkelte über Schach- und Winkelzüge. Auch gegenwärtig fesselt jede Gazette mit der Titelüberschrift „oppositioneller Spitzenkandidat“ die Leserschaft, ihre eigene Kernleserschaft.
Aber bis heute hat der 6´er Tisch es nicht geschafft, sich auf einen Spitzenkandidaten zu einigen. Vielmehr bremst man sich gar gegenseitig aus. Dem Oppositionsbündnis bleiben noch 101 Tage, dann sind die Wähler aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Der Kandidat lässt aber auf sich warten.
In dieser Zeit, also seit fast einem Jahr, hat das Bündnis das elementarste nicht zustande gebracht: einen Spitzenkandidaten aufzustellen, geschweige denn, Kandidaten an die Wahlkampffront zu schicken, um den Puls der Gesellschaft zu fühlen.
Während dieser Zeit wurde unter der amtierenden Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine Fabrik aufgebaut, in der das erste in der Türkei entwickelte und gebaute Elektroauto bereits vom Band rollt.
In dieser Zeit baute Baykar Technology nach der offiziellen Ankündigung den ersten unbemannten Kampfflugzeug namens Bayraktar Kızılelma. Seinen Jungfernflug hat Kızılelma inzwischen auch schon absolviert.
In nur einem Jahr wurde ein wichtiges Teilstück zwischen dem Istanbuler Stadtteil Kağıthane und dem neuen Istanbuler Flughafen-Terminal der M11-Metro von rund 34 km fertiggestellt und in Betrieb genommen. Herzstück dieser Metro ist die Signal- und Steueranlage, die von türkischen Ingenieuren entwickelt wurde.
Während dieser Zeit griff die amtierende Regierung das Problem mit den Rentenlücken-Anwärtern auf, die seit mehr als 34 Jahren auf eine geregelte Lösung warten. Inzwischen hat sich das erledigt. Die amtierende Regierung reagierte auf den Impuls der Gesellschaft, fühlte den Puls und reagierte.
Der Mangel an sozialverträglichen Wohnungen war auch ein Thema, dass die amtierende Regierung innerhalb eines Jahres unter Dach und Fach brachte, Hunderttausende Familien per Losverfahren eine Wohnung verschaffte.
Während dieser Zeit schaffte es das Oppositionsbündnis aber nicht, einen Spitzenkandidaten aufzustellen. Stattdessen betonte man beständig, gemeinsam das Land zu steuern, die Macht des Präsidenten zurechtzustutzen, jedem Mitglied des Oppositionsbündnisses ein Vetorecht zu geben. Man war sogar drauf und dran, das zukünftige Kabinett zu bilden und Posten zu verschachern.
Die Türkei wurde vor der Ära des gegenwärtigen Präsidenten und Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan mehr als 40 Jahre lang von Koalitionsbündnissen regiert. Während dieser Zeit brachen oder stürzten 20 Regierungskoalitionen. Manche mitunter nur wenige Monate nach Machtübernahme.
Die Bevölkerung ist sich dessen sehr wohl bewusst, welche Auswirkungen diese starke Fluktuation auf das Land hatte. Andauernde und kurzfristige Veränderungen in der Führung lähmten das Land. Das Regierungsgeschäft war mehr mit sich selbst und dem Parlament beschäftigt, als mit dem Land und Umland. Dessen Konsequenzen spüren die Menschen bis heute.
Das ist auch das wesentliche Manko des derzeitigen Oppositionsbündnisses. Sie offeriert auch gegenwärtig dieselbe Mentalität wie in den 20 Regierungskoalitionen zuvor, in der verbieten, einschränken, zerstören und abbauen das Kerngeschäft der Regierung bildete.
Auch jetzt bauen sich Oppositionsführer vor den Kameras auf, um bekannt zu geben, welchen Bürokraten sie vom Amt entheben werden, welche Führung der Rat der Richter und Staatsanwälte vorgesetzt bekommt, welche Ideologie in den Universitäten Einzug erhalten soll und welche von ihren Posten enthoben werden. Ja sogar Listen sind bereits ausgefertigt, um sie nach der Machtübernahme umzusetzen.
In all dieser Unsicherheit erklärte man zuletzt, den Spitzenkanidaten zum 13. Februar vorzustellen. Mittlerweile erklären vereinzelte Oppositionschefs des Bündnisses, dass das ein angestrebtes Ziel sei, bis zu diesem Datum einen zu finden. Das heißt, auch dann ist noch nicht klar, ob man einen Kandidaten vorstellen kann oder nicht.
Die türkischen Wähler beobachten das genau. Sie wollen bekannten Boden unter den Füßen und keine Wattwanderung in fernen Gefilden. Sie wollen konkrete Lösungen, die auf sie zugeschnitten ist und nicht, dass was die Europäer glücklich macht, wie es ein Oppositionsführer voller Stolz von sich gab.