Die türkische Opposition am Sechser Tisch (Altılı Masa) will eine Alternative zum Präsidialsystem der amtierenden Regierung der Türkei sein. Was können wir uns darunter vorstellen?
Das oppositionelle Bündnis in der Türkei, das aus der CHP, der DEVA-, der Demokratischen, der Gelecek-, der IYI- und der Saadet-Partei besteht, will mit einem einzigen Wahlkandidaten gegen Recep Tayyip Erdoğan antreten.
Ihr Credo dabei lautet, ein gestärktes parlamentarisches System (Güçlendirilmiş parlamenter sistem) einführen zu wollen, worunter man sich zunächst nichts vorstellen kann, weil es keine offiziellen Einzelheiten dazu gibt.
Das gestärkte parlamentarische System
Was sich bei etlichen gemeinsamen Diskussionen mit gegenseitigen Besuchen und Gegenbesuchen am runden Tisch seit 2017 herauskristallisiert hat, ist, ein gestärktes parlamentarisches System etablieren zu wollen, bei der Demokratie, Rechtstaatlichkeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit gestärkt werden sollen. Das sieht salopp gesagt vor, dass das Präsidialsystem, die 2017 per Volksreferendum eingeführt wurde, in Nuancen verändert wird, damit man zu sechst die Regierungsgewalt unter den wachsamen Augen des Parlaments ausübt.
Was zunächst schön klingt, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als ein äußerliches Retuschieren des vorhandenen Systems. Selbstverständlich werden nicht alle mit dem Tisch gemeinsam am Präsidentensessel Platz nehmen. Das Präsidentenamt soll vielmehr schneller vom Parlament entzogen oder die Regierung schneller gestürzt werden können.
Das Problem dabei: der Sechser Tisch müsste erst einmal einen gemeinsamen Präsidenten-Kandidaten aufstellen, um ihn gegen Erdoğan antreten zu lassen. Bereits da scheitert man kläglich.
In 8 Monaten sind Wahlen
Noch immer hat sich der Sechser Tisch nicht durchringen können, einen gemeinsamen Kandidaten für die Wahlen zwischen Mitte Juni und Anfang Juli nächsten Jahres vorstellen. Man ist noch beim Sondieren, heißt es, während die ersten handfesten Streitigkeiten zwischen den Parteimitgliedern vom Zaun gebrochen werden. Die Vorsitzenden sitzen das derweil gemütlich aus, wohl in der Hoffnung, dabei die eigenen Chancen ausloten zu können.
Wie soll dabei eine handlungsfähige Krisenregierung aufgeboten, geschweige denn aufgestellt werden, wenn allein das seit Monaten ein Streitpunkt ist? Schließlich spricht ja der Sechser Tisch von einer aktuellen Regierungskrise, die seit 2017 anhalte, die von einem fähigen Krisenmanagement gelöst werden müsse.
Aber bevor die Krise überhaupt angegangen werden kann, schlittert man selbst von einer Krise in die nächste. Wie will also der Sechser Tisch die eigenen Visionen vorstellen, den gemeinsamen Visionär aufbieten, geschweige denn all das verwirklichen?
Offensichtlich ist man ja nicht einmal fähig, in Krisenzeiten einen gemeinsamen Kandidaten zu benennen, geschweige denn aufzubieten. Man kommt ja über das eigene tägliche Geschäft nicht hinaus, um die öffentliche Wahrnehmung maßgeblich zu steuern und für sich zu gewinnen. Wie will man erst ein Regierungskabinett aufstellen und gemeinsam das Land steuern? Das einzige, was man derzeit hinbekommt, ist, Besuchstermine bei den Bündnisparteien zu arrangieren und einander einen Besuch abzustatten, kräftig Hände zu schütteln und sich in Pose zu setzen.
Die Belgisierung der Türkei
Da der Sechser Tisch bereits mit dem Tagesgeschäft überfordert ist, mit der Wahl eines gemeinsamen Kandidaten hadert, kann ich unverblümt von einer Belgisierung der Türkei sprechen, wie man sie vor 25 Jahren schon hatte. Nur wird es diesmal noch schlimmer, weil diesmal noch mehr Parteien gemeinsam in einem Bündnis im Rennen sind, die unterschiedlicher nicht sein können.
Diesen Politzirkus vorzustellen, der eine lange Zeit keine Regierung aufstellen kann, weil man mit sich weiterhin hadert oder in die Haare kriegt, wie bei der gemeinsamen Benennung eines Kandidaten, ist geradezu beängstigend.
Die Zeiten in Erinnerung zurückgerufen zu bekommen, bei der Menschen über Jahrzehnte wählen, alle Parteien durchgewählt haben, sich Koalitionen gebildet und höchstens einige Monate gehalten haben, aber nicht wirklich etwas verändert wurde, keine Vision umgesetzt wurde, ist wie die Uhr zurückzustellen und alles noch einmal Revue passieren zu lassen.
Für viele Menschen in der Türkei muss sich das ebenso anfühlen, sich ständig dabei zu ertappen, sich wie in alten Zeiten vorzukommen, bei der Parteien sich darüber zanken, wer nun die Regierungsgeschäfte anführt. Sowas lähmt nicht nur die Menschen, sondern vor allem den Staat, der zu nichts mehr kommt. In Zeiten wie dieser ein No-Go.