Die Türkei erwägt der Shanghai-Gruppe SCO beizutreten, deren größte Mitglieder China und Russland sind und die 40 Prozent der Weltbevölkerung stellt. In der Europäischen Union wird das mit Argwohn und Häme aufgenommen.
Im 21. Jahrhundert setzen sich Länder durch, die vorausschauende Politik betreiben und niemandem die Türe vor der Nase zuschlagen. Die Türkei verfolgt diesbezüglich eine ergebnisorientierte Politik und will selbst historisch tradierte Diskriminierungen seitens der EU nicht weiter hinnehmen.
Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu erklärte 2017, Europa sei auf dem besten Wege in einen Glaubenskrieg, die die meisten europäischen Parteien die letzten 20 Jahre wohlkalkuliert instrumentalisiert hätten, ohne dabei die Konsequenzen zu berücksichtigen.
„Sie haben alle dieselbe Mentalität und diese Mentalität wird Europa an den Abgrund führen“ erklärte Çavuşoğlu weiter und fügte hinzu, Europa werde schon lernen, wie man mit der Türkei umzugehen habe. Das ist nicht nur ein Glaubenskrieg, wie Çavuşoğlu während der Krise mit der EU betonte, sondern ein Krieg um Ansehens- und Einflussverlust der EU gegenüber der Türkei.
Eigentlich waren die Worte von Çavuşoğlu längst überfällig. Moralische Kreuzzüge führen am Ende immer in die Katastrophe. Der Annan-Plan, bei der die Wiedervereinigung der beiden Inselhälften Zyperns die Chance schlechthin bot, wurde von zypriotischen Griechen 2004 nicht nur torpediert, sondern vom europäischen Club mit der Aufnahme des Südens der Insel daraufhin auch noch belohnt, während der türkische Nordteil trotz eines „Ja“ in die Röhre guckte.
Jahre später scheint man in Europa die Sandkasten-Mentalität immer noch nicht abgelegt und von der Warnung Çavuşoğlus gelernt zu haben, wie man mit einem außerhalb des Sandkastens zu reden hat, der lediglich darum bittet, nach den Regeln mitspielen zu wollen. Das hat sich bei den Türken ebenso eingeprägt wie beim politischen Establishment innerhalb der türkischen Opposition.
Der Tonfall gegenüber der Türkei ist weiterhin abschätzig und hörbarer geworden. Man bittet nicht, man befiehlt und droht sogar arrogant. Man zeigt zwar die Regeln des eigenen Habitats auf, wendet sie aber selbst nicht weiter an oder macht bei anderen großzügig eine Ausnahme. Schlimmer noch, man legt neue Regeln an, droht damit, der Türkei den eigenen kleinen Sandhaufen unterm Allerwertesten abzugraben.
Wenn dieser Club der Auserwählten das bei einem Jammern belassen würde, könnte man das als Außenstehender noch akzeptieren. Wenn man aber als Außenstehender nun erklärt, einen anderen Sandkasten ins Auge gefasst zu haben, wo man mitspielen könnte und der europäische Sandkasten zur Brut ausgewachsener Narzissten mutiert, dann ist es mehr als nur peinlich.
Diese Überheblichkeit rächt sich soeben. Das selbstgerechte Moralisieren innerhalb der Europäischen Union hat Brücken nach außen niedergerissen. Legitime Interessen können nicht mehr durchgesetzt werden, finden bei Außenstehenden keinen Anschluss mehr. Es wird sogar schlimmer. Der politische Gravitationskern der Weltgemeinschaft verschiebt sich, Europa, Deutschland, ist nicht mehr die Nabel der Welt.
Das wird vor allem im Ukraine-Konflikt deutlich, wo mehr als Zweidrittel der Sandkästen weltweit sich nicht mit dem Konflikt ausserhalb ihres Habitats beschäftigen wollen. Diese historisch tradierte Fehlkalkulation in Europa hat immense Folgen, die eine Zeitenwende einleitet, die ohne Europa einhergeht. Die Türkei hat das früh erkannt, dennoch nie die Hoffnung verloren, dass die Europäer sich wieder auf die Kernidee ihres Zusammenschlusses finden. Offensichtlich hat man die Geduld der Türkei dabei überstrapaziert.