Die Türkei könnte im Schatten der Corona-Pandemie und des Ukraine-Kriegs als großer Gewinner hervorgehen, wenn Erdoğan es schafft, bis zu den Wahlen Mitte 2023 durchzuhalten.
2022 wird das Jahr der Erholung von der Pandemie werden, und die Erwartungen für einen Konjunkturaufschwung der Türkei waren hoch und bewahrheiten sich. Der türkische Präsident Erdoğan weis das. Er weiß auch, den türkischen Haushalt angesichts der Mehreinnahmen geschickt einzusetzen, um die Wähler trotz der hohen Inflationsrate bei der Stange zu halten.
Erdoğan hat auch dazu beigetragen, eine globale Hungersnot abzuwenden und damit innen- wie außenpolitisch zu punkten. Er könnte die drohende Energiekrise Ende des Jahres in Europa nutzen, um die Türkei in eine neue Weltordnung zu führen.
Gewinner und Verlierer des Ukraine-Kriegs
Es heißt ja, dass es im Krieg keine Gewinner gibt. Das alte Klischee hat aber einen Makel: die Länder, die auf beide Seiten einreden. Diese Länder werden gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen. Zum Beispiel wird China der Ukraine oder Russland nicht vorschreiben, was es zu tun habe, aber sich von den Russen vorteilhafte Öl- und Gasverträge sichern. Dasselbe gilt für Indien, die jetzt schon günstig einkaufen, teuer weiter verkaufen.
Der große Gewinner steht aber schon fest: die Türkei. Das Land hat inzwischen den Status einer regionalen Macht und das nicht erst mit dem Getreideabkommen, die Erdoğan zwischen Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj ausgehandelt hat. Damit hat das Land eine große globale Nahrungsmittelkrise abgewendet.
Die Türkei befindet sich nun an einem entscheidenden geopolitischen Scheideweg. Sie hat einen Fuß in Europa gesetzt und den anderen in Asien eingeklemmt. Es kontrolliert den Bosporus und damit das Tor zum Schwarzen Meer. Das Land sitzt am Kreuz der Öl- und Gaspipelines aus Zentralasien, was sich im kommenden Winter bewähren kann, wenn Europa ohne russisches Gas dasteht.
Als ein bedeutender Lebensmittelexporteur, als Mitglied der NATO, als Teil der EU-Zollunion, hat sich die Türkei zu einem neuen Industrie- und Produktionsstandort vor den Toren Europas entwickelt. Europäische Hersteller sind aufgrund der gestiegenen Lohn- und Nebenkosten in Europa sowie den Anforderungen des sogenannten ökologischen Fußabdrucks gezwungen, ihre Produktion in unbürokratische und zugleich für sie lukrative Länder auszulagern. Die Türkei bietet sich da als einziges Land aufgrund der engen wirtschaftlichen Beziehungen an, die mit den in Europa lebenden Migranten zusätzliche Anreize bietet.
Konflikte werden zum Bumerang
Und die Türkei ist das letzte Bollwerk, die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, dem Hindukusch oder Nordafrika an der Nahtstelle zu Europa aufzuhalten. Das letzte Mal, als die Türkei 2015 die Schleusentore für Flüchtlinge öffnete, war das politische Beben in ganz Europa zu spüren. Die Flüchtlingskrise, die von den Europäern und den USA in Jahrzehnten der Gewalt mit verursacht wurde, nötigte Europa, sich mit Ankara zu arrangieren und ein Abkommen zu unterzeichnen. Seither sprudeln Milliarden, um die Flüchtlinge mit dem allernötigsten zu versorgen.
Trotz der vielen Meinungsverschiedenheiten zwischen den europäischen Ländern und der Türkei in Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise saß und sitzt Ankara am längeren Hebel. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat gezeigt, dass er ein knallharter Händler ist, der bestrebt sein wird, die traditionelle Rolle seines Landes, die Dogmen und Interessen der Türkei zu bewahren. Dabei wiegt Erdoğan beständig ab, wie er diese Interessen wahren oder durchsetzen kann, um zum Beispiel Moskau, Brüssel oder Washington widerwillig zu einer Übereinkunft zu überreden.
Türkei, ein verlässlicher Partner
So beliefert die Türkei gerne ihre TB-2-Kampfdrohnen an die Ukraine, weigert sich aber, russischen Kriegsschiffen die Durchfahrt durch den Bosporus in Richtung Mittelmeer. Nichtsdestoweniger bleibt Erdoğan mit Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj im Gespräch, hat sich als verlässlicher Partner erwiesen. Als Ergebnis dessen gab es das Getreideabkommen, mit der ukrainisches Getreide die internationale Gemeinschaft versorgen wird.
In den Hinterzimmern in Sotschi gab es zweifellos nicht nur Gespräche über Getreidelieferungen, sondern ganz andere entscheidende Themen, die in den kommenden Wintermonaten zum Tragen kommen. Sowohl Russland als auch die wohlhabenden europäischen Länder, die auf billiges Erdgas oder Erdöl angewiesen sind, haben nur eines im Sinn: Den Zugang zu einem Pipelinenetz, das die Öl- und Gasfelder des Nahen Ostens, Zentralasiens und sogar Russlands mit dem Mittelmeer verbindet.
Wladimir Putin würde einige Zugeständnisse machen, um russisches Öl und Gas über die vorhandenen Pipelinenetze, über die Aserbaidschan, der Iran und andere Länder ebenfalls liefern, durch die Türkei bis ans Mittelmeer an den Markt zu bringen. Putin sieht in den Häfen der Türkei eine Möglichkeit, die Sanktionsmaßnahmen Europas zu umgehen und die größte Devisenquelle seines Landes weiterhin sprudeln zu lassen.
Europa auf der Suche nach einem Energiekorridor
Europa sucht unterdessen verzweifelt nach einem südlichen Öl- und Gaskorridor, um zu verhindern, dass die Lichter des Kontinents im kommenden Winter ausgehen. Die starke Abhängigkeit von russischen Gaspipelines durch Nordeuropa hat in vielen europäischen Ländern dazu geführt, die Bevölkerung noch vor Monaten vor dem Winter auf eine Gaskrise vorzubereiten.
Bisher zeigen sich die europäischen Führer öffentlich optimistisch über den bevorstehenden Winter, um die Bevölkerung in Sicherheit zu wiegen. Aber was ist, wenn es ein besonders harter und langer Winter wird, das eine oder andere Kraftwerk vom Netz geht? Erdoğans Preis dafür, dass er als Retter der Stunde einschreitet, hängt unter anderem mit Ankaras ehrgeizigem Plan von einem „Mavi Vatan“ oder auf Deutsch „Blauer Heimat“ zusammen.
Ankara will die „Mavi Vatan“ leben
Das ist ein Anspruch der Türkei, die rechtmäßigen Seegrenzen durchzusetzen, das mit der Entdeckung von Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer noch einmal an Gewicht gewonnen hat. Die Ausbeutung der eigenen territorialen Gewässer würde den Energiebedarf der Türkei für kommende Generationen decken und das Land zu einem Nettoexporteur von Energie nach Europa machen.
Um diese Interessen durchzusetzen, hat Ankara am 9. August 2022 weitere spezielle Bohrschiffe, unter anderem die „Abdülhamid Han“, entsandt, um den Meeresboden in einem Gebiet zu untersuchen, das als Teil des „Mavi Vatan“ gilt und mit Griechenland und Zypern umstritten ist.
Das Problem mit den Anrainerstaaten Griechenland und Zypern ist historisch bedingt. Die Ausdehnung der griechischen Inseln ist so groß und tief, dass sich die von Griechenland beanspruchten Hoheitsgewässer derzeit bis zur Küstenlinie der Türkei selbst erstrecken. Ein von Ankara erbittert zurückgewiesener Anspruch.
Erdoğan, ein geschickter, knallharter Verhandlungspartner
Dennoch: Die EU hat der Türkei mit Sanktionen wegen ihrer territorialen Gegenansprüche gedroht. Erdoğan hat diese Drohungen bislang nicht ernst genommen und verweist darauf, das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982 nicht ratifiziert zu haben. Angesichts dessen ist der bevorstehende Winter und die Gaskrise geradezu prädestiniert dafür, sich die Einräumung von Rechten in den umstrittenen Meeresregionen zu verhandeln, wenn Europa nach Öl und Gas schreit.
Erdoğan wird die Energieknappheit in diesem bevorstehenden Winter sicherlich auch als eine einmalige Gelegenheit sehen, die etablierte geopolitische Ordnung der Welt neu zu zeichnen, um die Türkei zu einem Schlüsselelement einer neuen Ordnung zu machen. Es wird auch ein starkes Signal an die politische und wirtschaftlich starken Europäer senden, dass Verhandlungen mit Ankara der einzig gewinnbringende Weg nach vorne für alle Beteiligten sein wird, statt Hektik oder Einschüchterungen aufkommen zu lassen.
Das alles gefällt den Anhängern von Erdoğan, aber auch unentschlossenen Wählern, die die Probleme mit den Zukunftsperspektiven des Landes abwägen. Erdoğan muss nur durchhalten und die anhaltende Inflationskrise für die Bevölkerung irgend möglich abfedern. Die jüngst angekündigten Sofortmaßnahmen sind ein Lichtblick für viele junge Menschen und Familien, aber auch Rentner und Arbeiter, die seit der Corona-Pandemie mit Hilfen des Staates über die Runden kamen. Jetzt heißt es nur, die steigende Inflation in den Griff zu bekommen oder zumindest auszugleichen. Dazu hat er die Mittel, aufgrund der steigenden Haushaltseinnahmen.