Täglich überqueren 2.500 Lastwagen die türkisch-bulgarische Grenze, Kapitan Andreewo. Ein Großteil ist mit türkischem Obst und Gemüse beladen. Die EU versucht offenbar, eine bulgarische Misere in der pestizidfreien Agrarpolitik als Druckmittel gegen die Türkei auszunutzen. Zuvor waren Einschüchterungen in Verbindung mit dem Ukraine-Krieg gescheitert, auch weil die Türkei rechtzeitig den Weizenkorridor ausgehandelt hatte.
Anlass dafür war zunächst die Haltung der Türkei gegenüber Russland in Bezug zum Weizenimport. Man erhoffte sich davon, den eigenen Weizenabsatz zu steigern, in dem man die Türkei dazu zwingt, russisches Weizen zu sanktionieren. Als das misslang, wurde diesmal Bulgarien als Nahtstelle zur Türkei zum Problemfall erklärt.
Anlass dazu war einerseits eine mafiöse Struktur innerhalb der bulgarischen Behörden, die bis in die Ministerien reicht. Für die Kontrolle der Wareneinfuhren beauftragte die staatliche bulgarische Lebensmittelkontrollbehörde 2012 eine Firma, die auch am Grenzübergang Kapitan Andreewo tätig war - ganze 10 Jahre lang.
Was in der EU verboten ist, wird in Bulgarien noch versprüht
Einem Bericht der Euroaktiv zufolge, deckten im Jahre 2020 erste Recherchen in Bulgarien einen anhaltenden Gebrauch von in der EU verbotenen Pestiziden auf. Die Verbindungen reichten dabei bis weit in Ministerienebene. Es sollen laut dem Bericht auch Begünstigte eines Programms für ländliche Entwicklung sein, die Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik der EU erhielten. Das heißt, die landwirtschaftliche Infrastruktur Bulgariens wurde mit europäischen Mitteln mit finanziert.
Laut Martin Dermine, Referent für Gesundheits- und Umweltpolitik beim Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) Europa, soll der Einsatz von illegalen Pestiziden in vielen europäischen Ländern nach wie vor „gängige Praxis“ sein. In diesem Zusammenhang wurde eine weitere bulgarische Misere vom stellvertretenden Landwirtschaftsminister Iwan Hristanow 2020 aufgedeckt. Dieser hatte sich über die Ungereimtheiten bei den verrechneten Kontrollen am Grenzübergang Kapitan Andreewo gewundert und weiter nachgehakt.
Kontrollorgane in der Hand der Mafia
Bei den Überprüfungen kristallisierte sich heraus, dass die bulgarische Firma Interpred Eurologistic seit 2012 damit beauftragt war, Lastkraftwagen an Grenzübergängen zu desinfizieren, die Ladungen zu kontrollieren und Stichproben auf Pestizide und Schädlinge hin zu untersuchen. Eigner der Firma soll ein gewisser Rasmig Tschakarijan sein, der in Bulgarien als Unterweltfigur gilt. Allein von Januar 2020 bis November 2021 verrechnete das private Labor in 15 von 23 Monaten mehr Tests, als es technisch durchführen konnte, so der stellvertretende Landwirtschaftsminister Hristanow.
So recht passt dieses Bild nicht in die EU, die vorgibt, unzulässige Schadstoffkonzentrationen in Lebensmitteln nicht billigen zu wollen. Bulgarien reagierte auf die Misere erst schleppend, dann rief die Regierung die EU um Hilfe, setzte im Jahre 2022 unter anderem die Firma Eurolab 2011 ein, um die Kontrolle von Lebensmitteln zu übernehmen, was zunächst zu Problemen bei der Regulierung und Ausführung führte, auch weil mit demselben Personal der Interpred Eurologistic gearbeitet wurde.
Die Kontrollen wurden nun zwar regelmäßig durchgeführt, was aber vor allem die LKW-Schlangen an der Grenze anwuchsen ließ. In der türkischen Provinz Antalya führte das zu Beschwerden, die die IYI-Partei aufgriff. Hunderte Lastkraftwagen, mit verderblichen Lebensmitteln, seien an der Grenze gebunden und würden die örtliche Agrarbranche treffen, weil verdorbene Waren von EU-Einkäufern bemängelt, vernichtet und nicht bezahlt werden würden. IYI-Abgeordneter Feridun Bahşi forderte gegenüber dem türkischen Wirtschaftsministerium, sich dem Problem anzunehmen und mit den bulgarischen Behörden eine Lösung zu erarbeiten.
Auf der anderen Seite erhöhten bulgarische Händler den Druck auf die bulgarische Regierung. Sie kritisierten die restriktive Einfuhrpolitik, zumal die Mehrkosten der EU-Kontrollen auf die Produkte umgeschlagen werden müssten und die Preise hochtreibe. Das Problem wuchs während der Pandemie immer weiter an, auch weil die EU einen Mehrbedarf an frischen Lebensmitteln beanspruchte. Die türkische Regierung drohte daraufhin der EU, den Soll nicht erfüllen zu können, sollten die Kontrollen weiterhin restriktiv angewendet werden. Anfang Juli dieses Jahres entsendete die EU Kontrolleure an den wichtigsten Grenzübergang der EU, Kapitan Andreewo, um die Lebensmittelüberwachung der bulgarischen Firma zu inspizieren. Deren Bericht stellte Hristanow dann im Juli vor.
Bei über 1,3 Millionen Tonnen Ausfuhren von Obst und Gemüse in die gesamte EU im Jahre 2021, hatten die bulgarischen Grenzkontrolleure 0,36 Prozent der Waren kontrolliert. Nach der Einsetzung einer Firma unter der Beobachtung der EU, stieg der Wert auf 0,63 Prozent. Wurden zuvor lediglich 6 Tonnen Lebensmittel am Tag wegen hoher Pestizid-Belastung beanstandet und zurückgewiesen, waren es laut Hristanow jetzt 22 Tonnen Lebensmittel am Tag, die in Kapitan-Andreewo hängen blieben.
Laut den Ausführungen von Hristanow wurden zwischen April und Mai dieses Jahres innerhalb von 35 Tagen 32.000 Tonnen Obst und Gemüse kontrolliert, wovon 223 Tonnen zurückgewiesen wurden, sprich 0,7 Prozent. Im gleichen Zeitraum nach dem 20. Mai wurden von 21.000 Tonnen nun 806 Tonnen Lebensmittel abgewiesen, was rund 3,8 Prozent ausmacht.
Mit dem Auftritt der EU in Kapitan Andreewo begann erneut der Druck auf die Türkei
Während einer Sitzung des EU-Sonderausschusses für Landwirtschaft Ende Mai, betonten mehrere Mitgliedstaaten ihre Bedenken gegenüber Ankara, wie wichtig es sei, dass die Türkei ihre Haltung zum Ukraine-Krieg bzw. zu Russland in Bezug zu Weizen-Importen überdenken müsse. Ihr Verhalten werde daran geknüpft, wie die Haltung der EU gegenüber der Türkei ausfallen werde. Es gehe dabei um die Interessen sowohl der EU als auch der Mitgliedstaaten, die es gelte zu wahren.
Es hieß, dass der Ausschuss deutlich gemacht habe, die Gespräche abzubrechen und die Türkei daran zu erinnern, sich an die Spielregeln zu halten. Der Vorstoß wurde vor allem von Griechenland und Zypern angeführt, deren Beziehungen zur benachbarten Türkei aufgrund der Ägäis und dem östlichen Mittelmeer mehr als angespannt sind. Offensichtlich hat der Ukraine-Krieg nicht nur zwischen den der Ukraine und Russland einen hybriden Krieg ausgelöst, sondern auch einen hybriden Schlagabtausch der EU und ihren Mitgliedsstaaten gegen die Türkei.
Es geht dabei unter anderem auch um Milliarden, die aufgrund der weltweiten Krise der EU-Gemeinschaft fehlen und somit schwächen. Laut dem Agricensus Export Dashboard lieferte Russland im Jahr 2020 7,72 Millionen Megatonnen (mt) Weizen in die Türkei, was 75 Prozent der gesamten Importe entspricht, wobei zwischen Januar und September 2021 5,1 mt exportiert wurden.
Europa ist der zweitgrößte Lieferant von Weizen für die Türkei, mit 1,33 Millionen Tonnen im Jahr 2020, die vor allem aus Deutschland, Polen, Litauen und Lettland stammen. Man erhofft sich wohl, die Menge zu steigern und damit die Türkei zum willfährigen Gehilfen gegen Russland zu gewinnen. Zugleich erweckt es den Anschein, dass manche EU-Länder eigene offene Rechnungen mit Ankara in diesem Zuge abwickeln wollen.
Ankara hatte mit dem Getreide-Deal zwischen Russland und der Ukraine der EU eigene Regeln aufgedrückt und ihre Bemühungen ins Leere laufen lassen. Jetzt kommt es zum nächsten Schlagabtausch.