Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland begann schon mit dem bewaffneten Konflikt um die ukrainische Halbinsel Krim. Hatte Europa, hatte die NATO das alles nicht kommen sehen? Welche Rolle spielte dabei die Türkei?
Türkei liefert erste Bayraktar TB-2 an Ukraine
Als im Januar des vergangenen Jahres die ukrainische Marine und die Luftwaffe ihre ersten modifizierten Drohnen des Typs Bayraktar TB-2 bestellten, ahnte noch keiner, dass das nur wenige Monate später den Verlauf des Angriffskrieges beeinflussen würde.
Im April des vergangenen Jahres bezeichnete die Zeitschrift Forbes die TB-2 als einzige wirksame Waffe gegen eine übermächtige Armee an der Grenze. Im Juni des gleichen Jahres zeigte sich der ukrainische Generalstab fast schon entzückt über die Fähigkeiten der türkischen Bayraktar TB-2 Drohne über der Region Dombass.
Videoausschnitte der Drohneneinsätze zeigten, wie reihenweise Stellungen der Separatisten glasklar auf dem Präsentierteller dargeboten wurden. Das ukrainische stattliche Institut bestätigte im Folgemonat die Einschätzung, dass die türkische Drohne kampfentscheidend sei. Da war man sich in Europa immer noch uneins, ob Wladimir Putin mit den Truppenverschiebungen nur blufft oder das unvermeidliche, die Okkupation von Teilen der Ukraine, vollendet wird.
Europa uneins, bis zum Schluss
Auch die Warnungen aus den USA, Russland habe all ihre Truppen nicht zum Aufwärmen an der ukrainischen Grenze aufgestellt, konnten die Europäer nicht wirklich beeindrucken. In Ankara hatte man dagegen erkannt, dass die Besetzung der Krim, die Stärkung der Separatistenhochburgen im Donbass, nur pausierte Konfliktherde sind, die früher oder später wieder aufflammen werden.
Türkei stellt sich frühzeitig ein
Die türkische Denkfabrik SETA begann schon früh - im Oktober 2020 - nicht nur konventionelle Prognosen zu erstellen, sondern im Laufe des Zeitraums auch über mathematische Gleichungen das Risiko eines russischen Angriffskrieges zu bewerten. Und die waren vernichtend.
Zuletzt konstatierte Mehmet Çağatay Güler Anfang Dezember anhand mehrerer aufgestellter Szenarien, dass der russische Angriff kurz bevor stehe. Längst hatte der türkische Nachrichtendienst MIT die Bewertungen der SETA, die Studien der instituDe, einer Organisation ehemaliger türkischer Diplomaten oder die der edam, einem Forschungsinstitut mit Sitz in Istanbul, ausgewertet und in ihre Bewertungen miteinfließen lassen; so jedenfalls türkische Analysten.
Die ersten Berichte und Studien ergänzten laut Mete Yarar, einem türkischen Analysten für nationale Sicherheit, die nachrichtendienstlichen Informationen der MIT. Es sei nicht verwunderlich, dass die Türkei daraufhin bereits im Juni 2021 begann, die ersten Drohnen der Baureihe TB-2 an die Ukraine auszuliefern. Viel früher als geplant.
Im September 2021, nur wenige Monate nach den ersten erfolgreichen Einsätzen der Drohne über der Region Dombass, unterzeichnete die Ukraine dann einen weiteren Kaufvertrag von über 24 Bayraktar TB2-Drohnen, und erhöhte damit die Anzahl auf über 48. Mete Yarar erklärte nur wenige Tage später, „man hört es kommen.“
Frankreich und Deutschland gegen Einsatz von Drohnen
Überraschenderweise war man sich in Europa immer noch nicht einig, wie man dem russischen Truppenaufmarsch begegnen könnte. Das spiegelte sich in der Kritik Frankreichs und Deutschlands wider, als man im Oktober 2021 die Drohnen-Einsätze der ukrainischen Luftwaffe für nicht zielführend hielt. Wolodymyr Selenskyj erklärte daraufhin, dass die Drohnen zu Verteidigungszwecken eingesetzt und damit die Waffenruhe nicht verletzen würden.
Beide europäischen Länder hatten dabei auf das Minsk II-Abkommen hingewiesen. Das Abkommen sah ein Ende des seit 2014 in der Ost-Ukraine herrschenden Krieges und eine politische Beilegung des Konflikts vor.
Wladimir Putin hatte da längst einen Keil durch den Westen getrieben und setzte nun einen neuen Keil an: zwischen der Türkei und dem Westen. Die Libyen-Krise, in der sich Ankara geradezu gegen den Westen und Russland positionierte, ist eines dieser Schlüsselmomente, wo Putin seinen ersten Erfolg verbuchen konnte.
Das anschließende Wiederaufflammen der Ägäis-Krise, die Aufteilung des östlichen Mittelmeers, ohne die Beteiligung der Türkei oder Nordzyperns, der syrische Bürgerkrieg, waren nur noch Folgeerscheinungen dessen, was Putin von langer Hand geplant hatte.
Türkei vom Westen isoliert
Der einstige NATO-Verbündete, die sichere Südostflanke der NATO, das im Kalten Krieg ein Nebenschauplatz der Kuba-Krise von 1962 war, wurde vom Westen politisch wie militärisch sanktioniert.
Putin konnte den Zeitpunkt ab da an, wo die Türkei die volle Aufmerksamkeit bekam, bestimmen, wann er den Status quo auf ukrainischem Territorium weiter nach Westen verschiebt. Die Folgen des neu aufgeflammten Ukraine-Krieges verdeutlichen zusehends, dass die Europäer angesichts dieser Zerstrittenheit untereinander und mit der Türkei, die auf geopolitisch gegensätzlichen Interessen beruhen, Putin dazu animierten, zu einem günstigen Zeitpunkt zuzuschlagen.
Der russische Präsident muss sich zwar jetzt mit der großen Empörungsmimik des Westens beschäftigen, aber eine tatsächliche Bestrafung seines Handelns ist noch in weiter Ferne - gerade wegen der Abhängigkeit und der vorherrschenden Uneinigkeit. Dagegen hat die USA ihren Soll so weit wie möglich - wenn auch spät - wieder aufgefüllt und liefert nun ebenfalls Drohnen, Man-Pads oder Gewehre.
Washington Post: Weg in den Krieg
Die USA warnten Selenskyj zwar recht früh über eine anstehende Konfrontation mit Russland, aber Waffen wollte Washington dann doch nicht liefern, wie Washington Post berichtet. Selenskyj habe auf die Warnung hin von den USA Waffen angefordert - die Art von Waffen, die zu einer Selbstverteidigung benötigt werden, aber das habe die USA im Hinblick auf ihren Status verweigert.
Selenskyj wurde bis vier oder fünf Tage vor der eigentlichen Invasion von Washington gewarnt, aber letztendlich konnte oder wollte man eindeutige Informationen hierzu nicht preisgeben, und was noch wichtiger ist, auch keine entsprechenden Waffen liefern.
Weil die USA bzw. deren Geheimdienste nicht mit offenen Karten spielten und daher taktische Informationen nicht weitergaben, die die Ukraine hätte nutzen können, um Offensivangriffe auf russische Truppenstandorte auf der Krim oder gegen vom Kreml unterstützte Separatisten im Osten zu starten, suchte die Ukraine nach anderen Waffenlieferanten.
Kubela: Kein anderes Land der Welt
Es ist bezeichnend dafür, dass die Ukraine zuallererst den Waffen habhaft werden wollte, die ihr zur Verfügung gestellt werden. Die Türkei lieferte sehr früh sehr viele Drohnen. Anfang des Krieges erklärte der Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba, „kein anderes Land der Welt hat mehr für die Ukraine getan, um die notwendigen Waffen zu bekommen, als die Türkei. Kein anderes Land der Welt“. Später fügte Kuleba auch die USA hinzu. Gegenwärtig setzt Kuleba nur noch auf Ankara, um für den Krieg eine diplomatische Lösung herauszuarbeiten.