Nordsyrien: Zwischen Operationen, Wassermangel und Terror

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In Europa hat sich ein Bild etabliert, in der die Türkei die Rolle des Aggressors und Besatzers einnimmt, das Wasser vorenthält, wahllos SDF-kontrollierte Gebiete beschießt und Menschen, vor allem Kurden zur Flucht drängt.

Ist das so? Zum Glück gibt es Menschen, die sich vor Ort ein Bild machen oder von syrischen Berichterstattern mit Informationen versorgen. Die niederländische Wissenschaftlerin und Arabistin Rena Netjes ist so ein Mensch. In ihren Berichten, vor allem in einem zusammenfassenden Forschungsergebnis, die sie zusammen mit Erwin Van Veen herausbrachte, hört und liest sich das alles doch wieder anders an. Das Forschungsergebnis mit dem Titel "DIE YPG/PYD IM SYRIENKONFLIKT" kann Online gelesen werden.

Die Türkei z.B., trage laut Netjes nicht die Verantwortung dafür, dass die Situation in Nordsyrien eskaliert sei. Auch könne man der Türkei nicht vorwerfen, untätig geblieben zu sein. 

Spätestens seit 2016 habe man vor allem im Westen tatenlos zugesehen, wie die gesamte Bevölkerung von mehr als 40 Ortschaften in Nordsyrien mit Fassbomben und Luftschlägen der Regimekräfte zusammen mit Russland und den kurdischen Volksverteidigungskräften (YPG) vertrieben worden sei. Die oppositionelle Freie Syrische Armee (FSA) habe man hingegen wie heiße Kartoffeln fallen gelassen.

Diese vom Regime und der YPG bzw. der ihr überstehenden Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) vertriebenen Menschen, die als Binnenflüchtlinge nahe der syrisch-türkischen Grenze in Zelten ausharren würden, hätten jedes Recht der Welt, ihre angestammte Heimat vom Terror zu befreien, darunter Tall Rifaat und al-Hasaka

Für Rena Netjes ist es geradezu moralisch verwerflich, auf der einen Seite sich mit Ukrainern solidarisch zu geben, die aus ihren angestammten Gebiete aufgrund des russischen Einmarsch geflüchtet sind. Auf der anderen Seite Syrern mit fadenscheinigen Begründungen, vor allem in Bezug mit dem Einmarsch der Türkei, die Solidarität zu entziehen, um kurdische Kräfte zu unterstützen, die doch die wahren Besatzer seien.

Laut Rena Netjes seien z.B. Tall Rifaat, al-Hasaka oder Manbidsch keine kurdisch-dominierten Städte, wie man es in Europa vermittelt habe, um eine sogenannte kurdische Selbstverwaltung zu errichten. Dennoch würden diese Gebiete von sogenannten kurdischen Demokratischen Kräften dominiert und kontrolliert.

Überzeugt ist Netjes auch, dass die militärische Operation der Türkei in Afrin im Frühjahr 2018 nicht passiert wäre, wenn die YPG nicht in Zusammenarbeit mit den Russen und Regimekräften alle Bevölkerungsgruppen vertrieben hätte. Die Art und Weise, wie die YPG in der Region Afrin gewütet habe, so Netjes, hätte lokale Kräfte mobilisiert, die sich der türkischen Militäroperation angeschlossen hätten, um die eigentlichen Besatzer zu vertreiben. Gerade das zeige doch, welche Partei in der Region unerwünscht sei.

Noch immer würden kurdische Kräfte unter dem Dach der SDF außerhalb der Region von Afrin Menschen unterdrücken und erpressen, gebe es Menschenrechtsverletzungen. Das sorge dafür, dass die Kurden, die im Frühjahr 2018 mit der SDF sich zurückgezogen hätten, nun wieder in die sichere kontrollierte türkische Zone zurück flüchten würden. Es fände demnach ein Ausbluten der SDF-kontrollierten Gebiete statt, so Netjes in ihren Beobachtungen.

Demnach sind bereits mehr als die Hälfte der geflüchteten Kurden in ihre Heimat innerhalb der Region Afrin zurückgekehrt. Die Freie Syrische Armee (FSA), behindere die Rückkehrer nicht, bis auf wenige Ausnahmen, die von arabischen Brigaden herrühre.

Auf der anderen Seite könnten Araber oder Turkmenen im allgemeinen nicht in ihre angestammten Wohnorte wie in der Region Tal Rifaat zurückkehren, weil die SDF sowie die YPG das grundsätzlich mit Gewalt verhindern würden.

Als Netjes Ende März in der Region Afrin war und die von der FSA und türkischem Militär kontrollierte Stadt Aʿzāz aufsuchte, dachte sie zunächst, keinen einzigen Kurden anzutreffen, keine kurdischen Parteibüros vorzufinden. Doch sie hörte auf den Straßen von Aʿzāz Kurden, so Netjes überrascht, die über die Befreiung Afrins sprechen würden.

Überrascht habe sie auch, dass die Stadtratsmitglieder von Afrin mit einer Reihe von kurdischen Geschäftsleuten, auf der Todesliste der YPG bzw. PKK ständen, die 2018 nach der Militäroperation in die Region Afrin zurückgekehrt seien. Zuvor hätten diese kurdischen Ratsmitglieder als Binnenflüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze oder in der Türkei Zuflucht gefunden, bevor sie nach Afrin zurückgekehrt seien.

Wieso der Westen ein ganz andere Bild davon habe, die nicht die Realität wiedergebe, kann sich Netjes nur damit erklären, dass die YPG sowie die SDF, die im Grunde die PKK sei, sich in westlichen Medien gut präsentiert hätten; als eine kleine militante kurdische Gruppe, die es mit dem Islamischen Staat aufgenommen habe. Nach dem die Kurden in der Region jahrzehntelang unter dem Regime gelitten hätten und der Westen das mit angesehen habe, habe sich dieses Narrativ spielend leicht auch auf die türkischen Militäroperationen übertragen, so Netjes.