Nach der Wahlschlappe in der Türkei hat es Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) nicht leicht. Er hat nach dem Wahldebakel keinen Abgeordnetenmandat und den Chefsessel darf er eigentlich laut dem ehemaligen Generalsekretär der Partei, Önder Sav, auch nur drei Jahre besetzt halten. Zudem sitzen noch mehrere Wahldebakel im Sitzfleisch des Oppositionsführers. Keine guten Randbedingungen zur kommenden Kommunalwahl.
Vor zwei Wochen eilte der Vorsitzende der größten türkischen Oppositionspartei CHP nach Akbelen in der Mittelmeerprovinz Muğla, um Demonstranten beizustehen, die die Nutzung eines Waldgebiets für den Tagebau verhindern wollten.
Ohne ein Mandat im Nationalparlament, inmitten eines innerparteilichen Machtkampfs, der seit dem Wahldebakel vom Mai anhält, stand die demonstrative Solidaritätsanwesenheit von Kemal Kılıçdaroğlu in Akbelen nicht gerade unter einem guten Stern.
Waldgebiet Akbelen
Der Stern sank noch weiter, denn, nach einer kurzen Stippvisite am Rande der Hauptzufahrt zum Waldgebiet und einer aufgedrängten Rede an die Demonstranten, stieg Kılıçdaroğlu unverrichteter Dinge wieder in sein Fahrzeug. Unverrichteter Dinge? Zumindest im Auge des Betrachters, in diesem Fall den Demonstranten.
Die Rede von Kılıçdaroğlu hatten die Demonstranten noch begeistert aufgenommen, jedoch erwartet, dass der Umweltaktivist - wie er sich in der Rede ständig selbst widerspiegelte - Seite an Seite mit ihnen die Straße versperrt oder gar das Waldgebiet betritt und genauso kämpferisch wie in der Rede, sich mit der Gendarmerie ein Katz-und-Maus-Spiel liefert.
Aber das war eben nicht der Fall, weshalb die Stimmung schnell kippte und die Demonstranten auf das Fahrzeug von Kılıçdaroğlu hämmerten, als dieser sich bereits auf der Rückbank gemütlich machte.
Arabaya değil, barikata [deutsch: Nicht zum Auto, zur Barrikade]
Lange Rede, kurzer Sinn: Kılıçdaroğlu ist seit der Wahlschlappe merklich ruhiger, ängstlicher, keift nicht mehr so unverhohlen über die Regierung oder Behörden und schon gar nicht gegen Recep Tayyip Erdoğan oder die AKP. Ohne ein Abgeordnetenmandat und ohne Immunität, ist Kılıçdaroğlu nüchtern betrachtet sogar ein zahnloser Kater.
"Değişim", zu deutsch "Veränderung"
Dann kommt noch der innerparteiische Konflikt hinzu, der seit der Wahlschlappe anhält und die TV-Talkshows tagtäglich beschäftigt. Kaum ein Tag vergeht, in der Kılıçdaroğlu nicht mit dem Unwort "Değişim", zu deutsch "Veränderung", konfrontiert wird.
Noch befremdlicher wirkt das ganze, wenn gleich zwei Ziehsöhne von Kılıçdaroğlu, der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu sowie Fraktionsvorsitzender Özgür Özel an seinem Chefsessel rütteln und dabei noch vorgeben, nach dem Wahldebakel die Partei verändern zu wollen.
Brutus und Caeser
Nicht ohne Grund werden sie daher vereinzelt als Verschwörer, als türkischer Brutus bezeichnet; Brutus stellte wie all die römischen Verschwörer, das moralische Ideal der „Freiheit“ über das der Dankbarkeit gegenüber Caeser, und ermordeten ihren politischen Mentor, Lebensretter, Ziehvater. Der Wahre Grund war indes die Befürchtung, dass sich Caeser als Alleinherrscher geriert und die Macht auf sich zentriert.
Die türkischen Brutuse müssen aber noch viel Lehrgeld zahlen, um die Herrschaft von Kılıçdaroğlu allein mit Softpower zu brechen. Mit wagen Formulierung, wie etwa, man wolle Veränderung herbeiführen, werden İmamoğlu oder Özel nicht weit kommen. Und wenn sich zwei potentielle Kandidaten nicht selbst als Kandidaten vorstellen, sondern ständig mit dem Begriff "Veränderung" jonglieren, dann werden die Wähler in der kommenden Kommunalwahl das auch entsprechend quittieren. Diese Einsicht teilen viele ehemals verdiente Politiker der CHP, aber nicht ohne Hintergedanken.
İmamoğlu muss um sein Amtssitz fürchten
İmamoğlu begreift nun, worum es eigentlich geht: um die Wurst. Deshalb hat İmamoğlu das Thema Chefsessel vorerst und abrupt pausiert und will sich offensichtlich wieder der OB-Wahl widmen. Bereits jetzt stimmen wieder hauseigene Umfrageinstitute in großartigen Lettern für İmamoğlu ein. Erfolg ist aber messbar und kann nicht mit beschönigten Umfrageergebnissen oder mit parteiinternen Wahlkampfteam-Trolls und parteinahen Zeitungsenten wettgemacht werden. İmamoğlu hatte vier Jahre Zeit, sich in Istanbul zu beweisen. Ob er in dieser Zeit die Herzen der Millionenmetropole gewinnen konnte oder unten durch ist, wird sich bei der Kommunalwahl zeigen.
Und Kılıçdaroğlu? Ihm wird noch die Ehre zuteil, die hochbetagte Partei ängstlich, unsicher und völlig desillusioniert durch den Sturm hindurch anzulanden. Fragt sich nur, in welchem Zustand und ob er danach noch das Ruder in Händen hält.