Die USA haben nach dem Debakel im Irak, Syrien oder Afghanistan die Rolle der Weltpolizei nicht völlig aufgegeben. Schon versuchen europäische Nationen das entstehende Vakuum füllen zu wollen. Allen voran in Deutschland machen sich Stimmen dafür stark, sich dieser Rolle anzunehmen und endlich Russland und die Türkei in die Schranken zu weisen.
Einer dieser Stimmen heißt Michael Thumann, der in der ZEIT dafür schon mal die Fühler ausstreckt und den Weg dafür vorschreibt. In seinem Artikel mit dem Titel "Fünf vor acht / Türkei und Russland - Putin und Erdoğan müssen klare Grenzen gesetzt werden" fordert Thumann die Ampelregierung dazu auf, mit "zwei machtversessenen Paranoikern" aus Russland und der Türkei hart ins Gericht zu gehen.
Thumann wirft dabei den zwei "Autokraten" Putin und Erdoğan vor, sich vom Westen abgewendet zu haben, dabei sicher gehen zu wollen, "nicht vom Sockel" gestürzt zu werden. Da beginnt schon das eigentliche Problem des Artikels. Das erinnert an einem angeblichen Zitat von Woody Allen: "Nur weil du paranoid bist, heißt das noch lang nicht, dass sie nicht trotzdem hinter dir her sind.“
Thumann versucht mit seinem Artikel Wladimir Putin sowie Recep Tayyip Erdoğan und vor allem die Menschen in der Türkei unter "Paranoia" zu pathologisieren und somit als Gegenstand seriöser Diskurse und Erörterungen zu diskreditieren. Ob das tatsächlich zutrifft?
Es ist doch eine Tatsache, das Joe Biden noch vor seiner Amtsvereidigung zum US-Staatspräsidenten, Erdoğan zum größten Hindernis für die US-Pläne im Nahen Osten erklärt und vor laufenden Kameras verkündet hatte, ihn stürzen zu wollen. Es ist doch mittlerweile jedem in der Türkei klar, dass das Pentagon die "Teile und Herrsche"-Politik in Syrien vollzogen hat und erweitern will, dabei aber auf Granit gebissen hat. Es ist eine Tatsache, dass Bidens Vorgänger Donald Trump in der ihm eigenen entwaffnend-dreisten Dämlichkeit in einem Brief offen zugegeben und gedroht hatte, den US-Dollar als politisches Druckmittel gegen politisch missliebiges Verhalten gegen Ankara missbraucht zu haben und dies, falls erforderlich, zu jederzeit wieder zu tun.
Während man also in Deutschland von einem Wirtschaftskrieg der USA gegen Europa spricht, wenn Washington Strafzölle gegen europäische Einfuhren aus dem Hut zaubert, ist es in Bezug zur Türkei eine hausgemachte Wirtschaftskrise, wenn die USA dieselben Strafzölle für Einfuhren von Stahl und Aluminium aus der Türkei erhebt? Nicht recht einleuchtend, nicht wahr? Aber von "Paranoia" sprechen!
Spätestens mit der Einsetzung von Martin Erdmann als deutschen Botschafter in Ankara im August 2015 war klar, was Berlin um jeden Preis zu erreichen versucht: den Sturz, zumindest die Abwahl des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan samt AKP beschleunigen, zu unterstützen. Erdmann wurde im Juli 2020 unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Ob er sich noch an sein Kommentar zu Erdoğan im Flieger in Richtung Ankara erinnert? Jedenfalls ist Thumann wieder aktiv, um diese Politik auch in die nächste Regierung zu transferieren. Die scheidende Kanzlerin Merkel mag äußerlich ruhig sein und mit Russland sowie der Türkei angeblich einen „Pakt“ geschlossen haben, aber im Kern genauso zielgerichtet wie Biden oder Trump, um die eigenen Interessen zu wahren. Merkel war es nur nicht möglich, die gehegten Interessen Deutschland, Europas oder des Westens allgemein, gegen Russland und die Türkei durchzusetzen.
Es ist eine Tatsache, dass die Geschehnisse um den Tahrir-Platz und Gezi-Park zeitlich nahe beieinander lagen. In Ägypten hatten sich die Demonstranten vom Tahrir letztlich als tragische Figuren herausgestellt, die nichts weiter als „nützliche Idioten“ für Strippenzieher im Hintergrund waren. Das Schicksal Ägyptens, der Muslimbrüder und Mohammed Mursi ist nicht wirklich dazu angetan, vermeintliche Paranoia eines Herrn Erdoğan zu zerstreuen. Mit den Schicksalen anderer Länder im Nahen Osten, das wollen wir dann doch lieber erst gar nicht breittreten.
Thumann überzeugt mittlerweile jeden "Paranoiden", dass er ein Auftragsschreiber ist. Nicht nur, dass das von ihm skizzierte Bild der inneren Verhältnisse in der Türkei nicht das geringste mit der Lebenswirklichkeit vor Ort zu tun hat. Diese Diskrepanz tut sich ja bei fast allen westlichen Journalisten auf. Nein, das ist es nicht! Vielmehr skizziert Thumann zuverlässig exakt jene Narrative von Staatsmännern wie Erdoğan, die der jeweiligen deutschen Staatsräson im Verhältnis zu Erdoğan und der Türkei entsprechen. Ohne rot zu werden, vollzieht er dabei auch 180-Gradwendungen, wenn dies denn seitens der Staatsräson erforderlich erscheint. Wer es nicht glaubt, möge die ZEIT-Archive durchstöbern und sich kundig über die Lobhudeleien machen, die dieser Autor früher über Erdoğan zu verfassen pflegte.