Die Verhaftung der türkischen Popsängerin Gülşen offenbart eindrucksvoll, wie mit Empörung Klientelpolitik betrieben wird. Wie tickt die Türkei vor den Wahlen?
Steckt die Türkei in einer Wirtschaftskrise oder wenige Monate vor den Wahlen vielmehr mitten in einer Wertekrise? Das ist die eigentliche Frage, der wir uns stellen sollten. Mit der polizeilichen Vorladung und Verhaftung der türkischen Popsängerin Gülşen Bayraktar Çolakoğlu, sowie den anschließenden unterschiedlichen Reaktionen zeigt sich, dass der gesellschaftliche Segen ziemlich schief hängt.
Islam-Schule pervers?
Die Meinung, dass die Worte von Gülşen in Zusammenhang mit İmam-Hatip-Schulen (Berufsfachgymnasien für die Ausbildung zum Imam und Prediger) unglücklich gewählt waren, ist richtig und wichtig. Niemand hat das Recht, sich abfällig über Menschengruppen zu äußern; seien es İmam-Hatip-Schüler, LGBT-Personen, Juden, Aleviten oder Armenier.
Genauso wichtig ist es auch, im Vorfeld abfällige oder verletzende Äußerungen über die Werte einer Gemeinschaft entschieden zu verurteilen. Es geht gar nicht, sich einerseits über die Verhaftung von Gülşen zu empören, auf der anderen Seite Genugtuung zur Verhaftung und Verurteilung des Aktivisten Fatih Tezcan zu verspüren.
Für Beleidigung Atatürks 2 Jahre Haft
Fatih Tezcan hatte den Begründer der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Pascha (Atatürk), verächtlich gemacht. In der Folge wurde Tezcan polizeilich geladen, verhaftet, vor Gericht gezerrt und zu 2 Jahren und 2 Monaten abgeurteilt. Vorige Woche trat Tezcan seine Haftstrafe an.
Viele, die sich über die Verurteilung von Fatih Tezcan gefreut hatten und öffentlich ihrer Genugtuung Ausdruck verschafften, sind heute entschiedene Gegner der Verhaftung von Gülşen. Viele, die sich darüber freuten, dass der Täter, der die Ehefrau des inhaftierten Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş, Başak Demirtaş, verunglimpft hatte, verurteilt wurde, verunglimpfen weiterhin den türkischen Staatspräsidenten.
Viele, die einem Idioten die Pest wünschten, weil er Aleviten verächtlich gemacht hatte und dafür eine Haftstrafe aufgebrummt bekam, fordern nun die Freilassung von Gülşen?
Başak Demirtaş’a hakaret eden ahlaksız,
Alevi vatandaşlarımıza hakaret eden ahlaksız,
Gazi Mustafa Kemal Atatürk’e hakaret eden ahlaksız, hangi muameleyi görmüşse;
İmam Hatiplilere hakaret eden ahlaksız da aynı muameleyi görmüş…
Bundan kim, neden rahatsız olur? pic.twitter.com/AAzy98CSYH
— Mustafa Varank (@varank) August 26, 2022
Wie man sieht, hängt der Moralkodex extrem schief, und zwar bei sehr vielen. Der türkische Minister Mustafa Varank zeigte das in einem Beitrag auf Twitter auf: Wenn Gülşen dieselbe Erfahrung macht wie die drei Idioten zuvor, woran stört man sich dann eigentlich?
Varank verdeutlichte, wenn auch aus der strengen Warte heraus, dass die türkische Justiz ungeachtet der politischen oder ideologischen Präferenz, der individuellen Lebensweise oder religiösen Weltanschauung, das Recht durchsetzt und Hass wie Hetze entschieden begegnet; begegnen muss, weil die Vorinstanz, die Politik wie Gesellschaft unterschiedlich reagieren.
Warum muss eigentlich der Staat den gesellschaftlichen Haussegen mit drakonischen Mitteln zurechtrücken, wenn doch Politik und Gesellschaft das selbst in der Hand haben? Das ist doch die entscheidende Frage!
Hätte die entschiedene politische wie gesellschaftliche Abgrenzung nicht auch gereicht? Wäre damit Gülşen nicht auch eine Lektion erteilt worden? Hätten alle gemeinsam, die Politik wie auch Gesellschaft, sich entschieden gegen Gülşen gestellt, wäre die Karriere der Popsängerin im Nu beendet gewesen.
Güner Ümit wurde ausgegrenzt
Ist ja nicht so, dass das nicht möglich ist. 1995 hatte der TV-Entertainer Güner Ümit während einer TV-Show die Aleviten abfällig als „Kızılbaş“ bezeichnet. Die Vereine und Verbände der Aleviten protestierten heftig, die Gesellschaft reagierte vereint, die Politik handelte. Die Sendung wurde abgestellt, Güner Ümit tauchte 3 Jahre unter, begann zwar danach einen Neustart, konnte aber nie mehr an seinen früheren Erfolg anknüpfen.
Offenbar wenden Politik wie auch Gesellschaft seit geraumer Zeit einen moralischen Kodex an, der auf die eigene Klientel zugeschnitten ist. Auf Hasstiraden und Hetzkampagnen wird unterschiedlich reagiert. Ihre Vertreiber je nach Nähe zur eigenen Auffassung verteidigt oder abgeurteilt.
Musste die Verhaftung von Gülşen, Fatih Tezcan, „Vedat Muti“ oder Ahmet Şeref Demirel sein? Mitnichten! All diese Personen hätten genauso gut von der Gesellschaft und Politik ihr Fett weg bekommen. Stattdessen wurde je nach Standpunkt Empörungs- oder Verteidigungspolitik betrieben. Das ist ein Makel, dem sich die Politik wie auch Gesellschaft selbst stellen müssen. Und zwar schleunigst.