Paschinjan und der letzte Strohhalm in Deutschland

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Seit Dezember 2022 wirft Armenien Aserbaidschan vor, die einzige Straßenverbindung nach Bergkarabach zu blockieren. Dadurch würde die Versorgung der 120.000 Menschen in der Region mit Lebensmitteln, Medikamenten, Strom und Internet stark beeinträchtigt.

Der armenische Präsident Nikol Paschinjan bezeichnete die Situation als „Politik der ethnischen Säuberung“. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew wies die Vorwürfe als „falsch und absurd“ zurück und forderte Paschinjan auf, sich an das Prager Abkommen zu halten. Die Versorgung der Bevölkerung in Bergkarabach liege in der Verantwortung Aserbaidschans, da es aserbaidschanisches Staatsgebiet sei. Andernfalls sehe man sich gezwungen, nach eigenem Ermessen zu handeln.

Im armenischen Parlament wurde neulich heftig darüber debattiert, was es damit auf sich habe, dass die armenische Regierung dem Prager Abkommen offenkundig zustimmen werde. Dabei handelt es sich um eine im Rahmen des Europäischen Rates eingeleitete Friedensbemühung, bei der es auch um die Frage der Grenzziehung zwischen Armenien und Aserbaidschan geht - vor allem in Bezug zur Region Bergkarabach, der mit der Erklärung in Alma-Ata im Jahre 1991, Aserbaidschan zugesprochen wurde.

Beim Prager Forum hatten Armenien und Aserbaidschan erneut bekräftigt, die UN-Charta und die Erklärung von Alma-Ata aus dem Jahr 1991, in der beide Seiten die territoriale Integrität und Souveränität der jeweils anderen Seite bestätigt hatten, anzuerkennen. Das bedeutet auch, dass beide Seiten eine vom Europäischen Rat anberaumte Grenzkommission dabei unterstützen wollen, um nach einer Festlegung der Grenzen ihre gegenseitige Souveränität sowie territoriale Unversehrtheit zu garantieren.

Vorrangig wurde Ende 2022 beim Prager Forum bzw. das in diesem Rahmen ausgehandelte Abkommen festgelegt, dass Bergkarabach von Armenien entmilitarisiert wird, Separatisten entwaffnet werden. Daneben soll Armenien die materielle Unterstützung für die armenische Bevölkerung sowie Separatisten Bergkarabachs einstellen und die Grenzziehung anerkennen, da es ansonsten die Souveränität Aserbaidschans verletze. Im Gegenzug hatte Aserbaidschan zugesichert, Armenien vollständig anzuerkennen und diplomatische Beziehungen zu unterhalten.

Doch Paschinjan steht offensichtlich innenpolitisch sehr unter Druck. Sollte Paschinjan der Grenzziehung nach dem jetzigen Stand der Verhandlungen und nach den Frontlinien des Konflikts von 2020 zustimmen, wäre für die armenischen Nationalisten der Traum eines vereinten „Arzach“ ein für allemal ausgeträumt. Deshalb gibt es erste Warnschüsse in Richtung Regierung und politische Gegenreaktionen aus dem Ausland, um das Prager Abkommen doch noch zu verhindern. Paschinjan befindet sich auf einem schmalen Grad, um die Regierungsfähigkeit trotz des Gegenwindes beizubehalten. Dabei kommt er auch manchmal aus dem Tritt und macht interne Pläne öffentlich, die das Abkommen in Abrede stellen. Von der Warte eines armenischen Politologen aus betrachtet, versteht man den Zusammenhang besser:

„Wenn Sie aber das Prager Abkommen akzeptieren, akzeptieren Sie auch, dass Arzach Aserbaidschan ist, das heißt, Lachin [Laçın] ist auch Aserbaidschan, weshalb Baku die Straße auch blockiert.“

Während der Haushaltsdebatte für 2023 war im Zeitraum November - Dezember 2022 jedenfalls noch nicht ersichtlich, ob die separatistische Hochburg in noch besetzten Gebieten in Bergkarabach von der armenischen Regierung mitfinanziert wird oder die Zahlungen entsprechend dem Abkommen eingestellt werden. Ende Dezember 2022 kündigte Paschinjan dann in einer Parlamentsrede jedoch an, den Separatisten in Bergkarabach in Höhe von 4 Milliarden Dram zu helfen, um so die „derzeitige humanitäre Krise“ abzuwenden. Eine Kehrtwende und der Versuch die Bemühungen des Europarats ins Leere laufen zu lassen?

Es ist kaum verwunderlich, dass die armenische Diaspora hier zeitnah den nächsten Schritt macht, um das Abkommen von Prag weiter auszuhöhlen. Eine Gruppe armenischstämmiger Juristen aus Deutschland baut derzeit eine weitere Front auf, um die Situation zugunsten „Arzachs“ zu lenken. Man fordert in einem offenen Brief die Bundesregierung auf, Klage wegen Verletzung der Völkermordkonvention gegen Aserbaidschan vor dem Internationalen Gerichtshof einzufordern, weil durch die Blockade des Lachin-Korridors die Menschen in Bergkarabach nicht ausreichend versorgt werden würden. Wohlgemerkt, dabei geht es um aserbaiddchanisches Territorium.

Ob die Juristen aus Deutschland diese Forderung auch in Bezug zu Putin und den Separatisten in den ukrainischen Regionen Luhansk und Donezk aufstellen würden? Wohl kaum! Dennoch, offensichtlich meint man es in diesem Fall sehr ernst. Dabei stehen die Juristen vor einem Berg voller Probleme: Denn, die Bundesregierung stellte unmissverständlich klar, wie sie das in einem anderen Zusammenhang völkerrechtlich versteht:

„Völkerrechtlich ist klar: Wer ein Land darin unterstützt, sich zu verteidigen, wird dadurch nicht zur Kriegspartei. Die Ukraine hat das Recht zur Selbstverteidigung - gegen den russischen Angriffskrieg. Deutschland wird auch mit der Lieferung schwerer Waffen nicht zur Kriegspartei.“

Das heißt, bezogen auf Bergkarabach hat Armenien 1993 aserbaidschanisches Territorium angegriffen und die Region Bergkarabach unrechtmäßig angeeignet. Aserbaidschan hat sich zuletzt 2020 mit Unterstützung der Türkei gewehrt und das Recht zur Selbstverteidigung in Anspruch genommen, um den armenischen Angriffskrieg zu beenden und ihre territoriale Einheit zu sichern. Damit wäre a) die Türkei keine Kriegspartei und b) Armenien jenes Land, dass den Angriffskrieg 1993 begonnen hat und dabei Bergkarabach okkupierte, um dann mit Separatistenführern die „Republik Arzach“ ausrufen zu lassen.

Die deutsche Liebe zur regelbasierten Ordnung ist jedoch nicht frei von Heuchelei. Hier wird sich zeigen, ob die Bundesregierung die Schnapsidee der armenischstämmigen Juristen aufgreift, um daraus ein außenpolitisches Ziel zu verfolgen. Wenn dem so ist, bedeutet das auch, dass die regelbasierte Ordnung als Instrument umgedeutet werden kann, um andere Akteure im eigenen Interesse zu Wohlverhalten zu zwingen. Dass dieses Interesse versteckt wird und man sich selber nicht an die Regel hält, wird bei Partnern selbstverständlich einen Widerwillen auslösen, den Berlin offenbar immer noch unterschätzt. Mit Spannung wird nun erwartet, wie sich Deutschland in diesem Fall verhält. Mit Aserbaidschan als Energielieferant und der Türkei als Energiekorridor ist jedenfalls nicht mehr zu spaßen, die die UN-Konventionen hinter sich haben.