Gazastreifen: Ist Hamas gleich IS?

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Wusste die israelische Regierung unter der Führung von Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, dass die palästinensische Hamas in Gaza im laufe der Zeit sich zu einem Monster entwickelt, die zu einer Katastrophe führen wird? Zumindest behaupten das zwölf Wissenschaftler, die sich mit diesen Organisationen befassen und die von der israelischen Tageszeitung Haaretz interviewt wurden.

Nur zwei Wochen vor dem 7. Oktober schrieb Dr. Milshtein von der Universität Reichman in Herzlia, einen geradezu prophetischen Text, in der er die Gesellschaft vor falschen Annahmen warnte, die in einer traumatischen Überraschung enden würden. Milshstein warf der israelischen Gesellschaft im Text vor, nicht einmal die grundlegenden sprachlichen wie geschichtlichen Kenntnisse über den Nahen Osten zu besitzen. Daher würde man die eigene Logik auf den anderen übertragen. Milshstein setzt hierbei einen Marker, der auch auf den Westen übertrag ist, zumal die meisten Israelis aus Europa, Russland oder den USA stammen.

Ist also die Hamas gleich DAESH bzw. IS (Islamischer Staat)? Viele der israelischen Wissenschaftler lehnen diese Gleichung ab, da Israel selbst Beziehungen zu "Terrororganisationen" pflegte, die mehrere Wendungen annahmen. Das habe letztendlich auch aktiv und fahrlässig zu Radikalisierung dieser Organisationen geführt.

Prof. Itzchak Weismann, der islamische Bewegungen und islamisches Denken an der Universität Haifa lehrt, erklärt, dass die Umstände dazu beigetragen hätten, dass die Hamas am 7. Oktober zugeschlagen habe. Dann nämlich, als Israel schwach wurde, die Hamas auf die Situation reagierte. Man könne laut Weisman nicht behaupten, dass die Hamas "immer die IS" war. „Als Wissenschaftler müssen wir versuchen, ihre Denkweise zu verstehen, und es gibt Unterschiede“, sagt Weismann. „IS entstand aus der salafistischen Strömung [des Islam]. Es ist eine Bewegung, die in erster Linie theologisch ist und jeden, der nicht an den Islam glaubt, als Ungläubigen betrachtet. Auch Hamas-Mitglieder sind aus salafistischer Sicht Ungläubige, weil sie mit Israel verhandelt haben. IS macht so etwas nicht. Hamas versuchte, die gesamte Bevölkerung Gazas einzubeziehen. Weltliche Bewohner eingeschlossen. Im Gegensatz dazu würde die IS jeden Muslim ermorden, der nicht zur richtigen Zeit betet. Man kann nicht einfach sagen, IS hat Menschen abgeschlachtet und Hamas auch, also sind sie dasselbe. Das ist sehr oberflächlich.“

Dr. Netanel Flamer von der Abteilung für Nahoststudien der Bar-Ilan-Universität erklärt, dass die grundlegende Strategie der Hamas und der IS unterschiedlich sind. IS gewinne nicht die Herzen der Menschen, sondern dehne sich mit der Macht der Waffe aus. „Die Hamas rekrutiert die Bevölkerung auf andere Weise. Eines der ersten Dinge, die [Hamas-Gründer] Scheich Jassin tat, war zum Beispiel der Bau von Fußballplätzen.“

Prof. Shaul Mishal, Politikwissenschaftler sowohl an der Universität Tel Aviv als auch an der Reichman-Universität, glaubt, dass der Krieg, den Israel in Gaza begonnen hat, „Rache … ist, deren Gewinn angesichts der Verluste, die sie fordern wird, und des Preises, den sie fordern wird, gering sein wird.“ Mishal stimmt jedoch zu, dass die Hamas entwaffnet werden müsse, glaubt jedoch, dass dies nur durch Verhandlungen über Dritte und Vierte erreicht werden kann.

Michael Milstein hält die Idee, die Hamas vollkommen aus Gaza auszuradieren, für kontraproduktiv un gefährtlich. „Es gibt keine gute Alternative“, sagt Milshtein und erklärt es mit der Bevölkerung von Gaza, in deren Herzen die Hamas nun einen Platz bekommen habe. Die Palästinensische Autonomiebehörde sei schwach und könne das Vakuum im Gazastreifen nicht füllen. Als Alternative gebe es nur die Beibehaltung des politischen Arms der Hamas. „Andernfalls werden viel radikalere Gruppen eingreifen.“ sagt Milstein voraus und fügt hinzu: „Die junge Generation in Gaza, die mit der Indoktrination der Hamas aufgewachsen ist, ist stark von hochextremistischen islamistischen Strömungen beeinflusst. Wenn die Hamas weg ist, werden die verstörtesten Leute eingreifen, wie sie es in Somalia, im Jemen, im Sudan und an den elendesten Orten der Welt getan haben. Es ist nicht so, dass die Hamas im Verdacht steht, gemäßigt zu sein. Aber sie verfügen immer noch über institutionellere Rahmenbedingungen, es gibt immer noch eine einzige Führung. Wenn die psychotischen Gruppen die Macht übernehmen, wird [die Macht] dezentral in die Hände vieler Gruppen und Figuren gelegt.“

Was stellen sich die israelischen Wissenschaftler vor, wenn man keine noch gefährliche extremistische Strömung in Gaza haben will? „Ich denke, die Geiseln sollten oberste Priorität haben“, sagt Prof. Avraham Sela von der Abteilung für internationale Beziehungen und dem Truman-Institut der Hebräischen Universität. „Im Gegenzug sollten alle Gefangenen freigelassen werden.“ Laut Sela befinde sich Israel nicht in der Position, nicht zu verhandeln und verhandelt habe man vorher auch und stets den vollen Preis bezahlt. „Wussten Sie, dass der Preis, den wir unmittelbar nach seiner Gefangennahme für Gilad Shalit hätten zahlen können, deutlich niedriger war als der, den wir letztendlich zahlten? Dort sind 200 Geiseln, darunter Frauen, alte Menschen und Kinder. Welchen Verhandlungsspielraum haben wir? Warum können wir nie zugeben: „Wir haben versagt und jetzt müssen wir den Preis zahlen?“ Wenn wir ihnen sagen, dass wir bereit sind, alle [in israelischen Gefängnissen] freizulassen, wird das einen beispiellosen öffentlichen Druck auf die Hamas ausüben. Ich weiß, wie sehr der palästinensischen Gesellschaft dieses Thema am Herzen liegt.“

Dr. Nesia Shemer, eine Islamexpertin von der Bar-Ilan-Universität, erklärt zu den Geiseln der Hamas, dass Scheich Yusuf al-Qaradawi, der im letzten Jahr verstorbene spirituelle Führer der Hamas, entschieden habe, dass Kriegsgefangene laut Koran menschlich behandelt werden sollten. „Sogar er, der vernichtenden Hass auf Israel hegte, dachte das“, sagt Shemer. Ihrer Meinung nach sollte Israel auf die Forderungen der Hamas als Gegenleistung für die Geiseln hören, auch wenn der Preis höher ist als der, den wir zu zahlen bereit sind. „Meiner Meinung nach ist es falsch, nicht mit ihnen zu reden“, sagt sie.

Mit der Hamas sprach die israelische Regierung auch vor dem 7. Oktober, bis Hamas einen entscheidenden Fehler begang. Was ist aber die Hamas? Hamas ist ein Ableger der Muslimbruderschaft, ein krummer Zweig. Die Bruderschaft, die vor knapp einem Jahrhundert in Ägypten entstand und sich nach und nach auf der ganzen Welt verbreitete. Die Idelogie widmete sich der Idee der Dawah – wörtlich übersetzt „Aufruf“ oder „Einladung“ zum islamischen Glauben. Es wird in den „intimsten Systemen“ einer Gesellschaft praktiziert, sagt Milshtein. „In Kliniken, Wohltätigkeitsorganisationen. Ich komme mit einem Korb voller Lebensmittel für die Feiertage zu Ihnen, bringe Ihren Sohn von der Straße weg.“ Die Bewegung sei im Wesentlichen politisch und sozial, sagt er, und sie beschäftige sich nicht mit Terrorismus.

„Der palästinensische Zweig der Muslimbruderschaft war sehr gemäßigt“, sagt Dr. Harel Chorev, Forscher der palästinensischen Gesellschaft und Politik am Moshe Dayan Center. „Dazu gehörten alle Bürgermeister und die Oberhäupter aller Clans.“ Allerdings entwickelten sich die Zweige der Bewegung auf der ganzen Welt jeweils unterschiedlich, und als der lokale Ableger von Scheich Ahmed Yassin angeführt wurde, entschied er, dass er unter den besonderen Umständen, die sich in Palästina abzeichneten, den Weg der Gewalt einschlagen musste.

Laut israelischen Experten verpasste die israelische Regierung zwei wichtige Ereignisse, die einen relativen Frieden begünstigt hätten. Eins mit dem PLO-Chef Yassir Arafat und das andere mit Yahya Sinwar von der Hammas. Im Jahr 2006 gewann die Hamas die Wahl zur Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde in Gaza und seit 2007 regiert sie den Gazastreifen ohne Konkurrenz. Im Jahr 2017 veröffentlichte die Organisation ein neues, weicheres politisches Dokument, eine Art Änderung der Charta von 1988. Einige Wissenschaftler sehen darin einen PR-Trick und weisen darauf hin, dass die Hamas die ursprüngliche Charta nie abgelehnt habe. Aber laut Dr. Ronit Marzan, der an der Universität Haifa palästinensische Gesellschaft und Politik studiert, ist das neue Dokument sowohl wegen seiner Botschaft wichtig als auch, weil es im Gegensatz zur ursprünglichen Charta vom Schura-Rat, der höchsten Entscheidung der Hamas, genehmigt wurde.

„In dem Dokument verstärkte die Hamas ihren nationalistischen Charakter auf Kosten des Islam und erklärte, dass sie zwar der Vision der Befreiung ganz Palästinas verpflichtet sei, im Interesse des nationalen Konsenses jedoch bereit sei, einen Staat innerhalb der Grenzen von 1967 mit Jerusalem zu akzeptieren als Hauptstadt“, sagt Marzan. Im selben Jahr, so Marzan, stimmte der neue Führer der Hamas in Gaza, Yahya Sinwar, sogar zu, die Waffen der Gruppe der PLO zu unterstellen. „Er hat gesprochen und wir haben nicht zugehört“, sagt Marzan. „Er wollte anders handeln. Schließlich befand er sich in Gaza und war das Ziel aller Angriffe in allen Kriegsrunden, während die im Exil lebende Führung [Arouri, Khaled Meshal, Ismail Haniyeh] in Katar und im Libanon waren und ein gutes Leben mit ihren Familien führten.“

In einem Interview mit der italienischen Journalistin Francesca Borri aus dem Jahr 2018, das dann in Yedioth Ahronoth erneut veröffentlicht wurde, sagte Sinwar, dass „ein neuer Krieg nicht im Interesse von irgendjemandem liegt, schon gar nicht in unserem.“ Premierminister Benjamin Netanjahu hat jahrelang behauptet, dass die Hamas auf Kosten der Palästinensischen Autonomiebehörde gestärkt werden sollte. „Jeder, der die Gründung eines palästinensischen Staates vereiteln will, sollte die Stärkung der Hamas und den Transfer von Geldern an die Hamas unterstützen“, sagte er im März 2019 vor der Likud-Fraktion in der Knesset. „Es ist Teil unserer Strategie, die Palästinenser in Gaza von den Palästinensern in Westjordanland zu trennen, in Judäa und Samaria.“ Im Jahr 2021, mitten in den indirekten Verhandlungen der Netanyahu-Regierung mit der Hamas über eine allgemeine Vereinbarung, die Arbeits- und Handelsgenehmigungen, Gaslieferungen und katarische Finanzierung umfasste, schickte Sinwar Netanyahu über einen katarischen Vermittler eine Notiz auf Hebräisch. Berichten zufolge wurde die Notiz von Sinwar handgeschrieben, der im israelischen Gefängnis Hebräisch gelernt hatte. „Gehen Sie ein kalkuliertes Risiko ein“, hieß es in der Notiz. Auf dem Höhepunkt der Vereinbarung mit der Hamas reisten täglich etwa 18.500 Arbeiter aus Gaza nach Israel ein. Flamer, ein Experte für das Sammeln taktischer Geheimdienstinformationen von der Hamas, sagt, dass man mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass diese Arbeiter eine reichhaltige Informationsquelle über israelische Städte und den dortigen Alltag waren, Daten, die von der Hamas bei der Planung der jüngsten Operation verwendet wurden.

Marzan glaubt nun, dass „die Geschichte mit Sinwar vorbei ist“. Aber bis vor zwei Jahren, sagt sie, seien seine Absichten ehrlich gewesen und hätten genutzt werden sollen. Ihm hätte erlaubt werden dürfen, seine Beziehungen zur Fatah zu stärken, und er hätte daran gehindert werden sollen, finanzielle Beziehungen zu Katar zu unterhalten, wo Sinwars Denken ihrer Ansicht nach durch die dort im Exil lebenden Hamas-Führer vergiftet wurde.