Der Bundestag mit dem Gummiparagrafen der Volksverhetzung

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Am vergangenen Donnerstag hat der Bundestag über Nacht im Strafgesetzbuch den Paragrafen 130 verschärft. Demnach wird der Straftatbestand der Volksverhetzung jetzt mit „Billigung, Leugnung und gröbliche Verharmlosung von Völkermorden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ unter Strafe stellt.

Die Bundesregierung behauptet, damit einem Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission zuvor gekommen zu sein, die im vergangenen Dezember die Bekämpfung bestimmter Formen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit moniert hatte.

Damit ergibt sich aber ein Problem. Weil dieses im Eilverfahren verabschiedete Gesetz der Exekutive sowie Judikative mehr oder weniger freie Hand lässt, kann man von einem Gummiparagrafen sprechen. Der EU-Rahmenbeschluss hatte beispielsweise freigestellt, nur die Billigung solcher Kriegshandlungen unter Strafe zu stellen, deren Charakter als Kriegsverbrechen bereits durch internationale Gerichte festgestellt worden ist.

In dem nun neuen Paragrafen 130 wird mit keiner Silbe dieser kleine und feine Unterschied hervorgehoben. Wenn nun Staatsanwälte oder Richter selbst darüber befinden können, was ein Kriegsverbrechen ist oder ab wann ein Völkermord vorliegt, der dem Verdächtigen oder Angeklagten vorgeworfen wird, wo wird das enden?

Offensichtlich hat der Bundestag nicht nur den EU-Rahmenbeschluss nicht verstanden, sondern auch entsprechende Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hierzu vollkommen außer Acht gelassen. Denn, 2013 sowie 2015 wurde der türkische Politiker Doğu Perinçek vom Vorwurf der Leugnung des Völkermords an den Armeniern erst von der Kleinen, dann von der Großen Kammer des EGMR freigesprochen. Zuvor hatte Perinçek erfolglos alle schweizerischen Gerichtsinstanzen durchlaufen, die gegen ihn eine Geldstrafe verhängt bzw. für richtig erachtet hatten.

Das heißt, der EGMR hatte im Fall Perinçek entschieden, dass Kriegsverbrechen oder Völkermorde dann so genannt und juristisch verfolgt werden dürfen, wenn ein international anerkanntes Gericht dies zuvor festgestellt hat. Damit kommen wir zu der Frage, ob das im Eilverfahren verabschiedete deutsche Strafgesetz-Paragrafen 130 angesichts des Ukraine-Krieges aus einer Kurzschlussreaktion heraus die heutige Form angenommen hat. Auch hier ergibt sich ein Problem. Denn, kein internationales Gericht hat den von Russland angestoßenen Krieg bislang verurteilt.

Erst im März kündigte der Chefankläger des internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag offiziell an, Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine einleiten zu wollen. Sie sollten sich sogar zunächst auf mögliche Verbrechen vor der Invasion Russlands beziehen. 

Mitte März setzte sich die Ukraine lediglich mit einer einstweiligen Anordnung nach Art. 41 des IStGH-Statuts wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine durch, in der das IStGH Russland auffordert, die militärische Gewalt in der Ukraine sofort einzustellen. Ein Urteil zum Vorwurf von Kriegsverbrechen oder gar Völkermord, ist bis zur Stunde jedoch nicht gefallen. Der IStGH stellt vier Verbrechen unter Strafe: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Aggression.