In Ankara stolpern gleich mehrere Polizeibeamte des höheren Dienstes ausgerechnet über den eigenen Kronzeugen eines Mafia-Prozesses, der nicht nur die Mafiastruktur selbst, sondern auch die Regierungskoalition belasten soll. Das Komplott der Beamten gleicht dabei den Komplotts zwischen 2006 bis 2013, bei der Hunderte Politiker, Journalisten und Militärs in Massenprozessen verurteilt wurden. Zwischen 2013 bis 2016 stellte sich schließlich langsam heraus, dass die FETÖ (Fethullahistische Terrororganisation des Sektenführers Fethullah Gülen) die gesamte Staatsstruktur infiltrieren ließ, um einen Regierungsumsturz zu erzwingen.
Nur ein Jahrzehnt später nach den letzten Rehabilitationen der Verurteilten der Massenprozesse: Erk Acarer, ehemaliger Journalist der linksoppositionellen Tageszeitung Birgün und seit April 2017 im "Exil" in Berlin lebend, erklärt Anfang Mai, „alle Nachrichten, die ich mache, wollen insbesondere das LKA und das Bundesinnenministerium. Und die höhere Ebene will es auch!"
Ist nichts neues, aber vielsagend, dass die deutschen Sicherheitsbehörden ein großes Interesse gegenüber Strukturen zeigen, die in der Türkei negativ aufgefallen, ja sogar am letzten Putschversuch beteiligt oder in Komplotts verwickelt waren. Insbesondere aber jene aufnehmen, hegen und pflegen, die die türkische Regierung ständig im negativen Rampenlicht halten.
Da wäre z. B. die Aussage von Bruno Kahl, dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, der die Fethullah Gülen-Bewegung nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei in einem Interview 2017 wie einen Gartenverein repräsentierte. Oder wie das LKA in Berlin 2018 noch rechtzeitig die Blackbox der Gülen-Sekte, Adil Öksüz, in Sicherheit vor der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı brachte, die nach langer Recherchearbeit in Deutschland auf die Nummer zwei der Gülen-Sekte in Berlin Neukölln stieß; ein Haupttatverdächtiger, der während des gescheiterten Putschversuchs auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Akıncı die Befehle für die Angriffe, u. a. auf das türkische Parlament, austeilte.
Aber zurück zum Anfang dessen, das gegenwärtig in Ankara für Furore sorgt. Vor 8 Monaten wurde auf spektakuläre Weise der Kopf einer mafiösen Struktur namens Ayhan Bora Kaplan nach Ankunft in der Türkei irgendwo auf einer Landstraße zwischen dem Flughafen Esenboga und der Hauptstadt Ankara verhaftet. Bei der Verhaftung anwesend: Murat Çelik, stellvertretender Polizeichef von Ankara, dann der Direktor der Abteilung für organisierte Kriminalität, Kerem Öner und vermutlich auch Şevket Demircan, ein Oberkommissar im gehobenen Dienst in derselben Abteilung.
Überaus kurios, denn seit wann stellen sich Polizeichefs oder deren Stellvertreter und Assistenten des höheren Dienstes sich mitten auf die Straße, ziehen die Waffe und richten es auf ein herannahendes Fahrzeug, um einen Schwerstkriminellen festzunehmen? Aber es kommt noch besser! Nicht das schwerbewaffnete Einsatzkommando der Polizei zieht den Mafiosi aus dem Fahrzeug, sondern der stellvertretende Polizeichef höchstpersönlich packt Ayhan Bora Kaplan am Genick und zerrt ihn aus dem Sitz hinaus und drückt ihn auf den Boden, der sich geradezu erkenntlich zeigt und keine Gegenwehr gegen einen Bürokraten leistet.
Angesichts der rigorosen Verfolgung von Mafiabanden in der Türkei durch den türkischen Innenminister Ali Yerlikaya und dem ständigen Einsatz entsprechender schwerbewaffneter Kräfte, sticht das Verhaftungs-Szenario in Ankara erst im Mai dieses Jahres geradezu hervor; wie all die anderen gestellten Szenarien, die zu den Massenverhaftungen in den Ergenekon- und Vorschlaghammer-Prozessen zwischen 2009 bis 2013 führten und erst im nachhinein in ausgiebigen neu aufgerollten Ermittlungs- und Prozessverfahren aufgedeckt werden konnten. Das Ende vom Lied damals: All die vorgelegten Beweise und Lasten zu Ungunsten der inhaftierten und verurteilten Politiker, Journalisten, Militärangehörigen in den Massenprozessen waren entweder fingiert oder unter Androhung von Kronzeugen erpresst worden. Erst jetzt begriff man, was allen widerfahren war und alle richteten ihre Blicke auf die Fethullah Gülen Sekte und sein Machtapparat in Medien, Politik und Staat. Seither wird die Sekte juristisch verfolgt; wenn die türkische Justiz denn derer habhaft werden kann. Die Köpfe dieser Sekte setzten sich rechtzeitig ins Ausland ab und leben seither unter dem Schutz westlicher Länder.
Kommen wir wieder zur Gegenwart. Die große Frage, die sich derzeit Land auf Land ab viele namhafte Journalisten stellen ist, wer ist noch in diesen jüngst aufgedeckten Komplott involviert und ist das Ausland darin verwickelt?
Kurz nach der spektakulären Verhaftungsszene in Ankara und für wenige Wochen, leistete Erk Acarer wie gewohnt die Vor- und Nacharbeit dazu, welche Kontakte Ayhan Bora Kaplan womöglich über Dritte oder Vierte mit ehemaligen oder noch im Amt befindlichen Kabinettsmitgliedern gepflegt haben soll. Das Thema ebbte jedoch ab; auch weil es diesmal niemanden in der Türkei wirklich bewegte und vor allem, auch wachsame Journalisten zugegen sind, die Acarer genau auf die Finger schauen.
Anfang Mai dieses Jahres betrat Erk Acarer auf YouTube wieder mit dem Namen Ayhan Bora Kaplan die Weltbühne; oder sollen wir lieber von einer deutschen Leinwand sprechen? Acarer hatte Serdar Sertçelik auf YouTube eingeladen, einem Kronzeugen, der innerhalb der mafiösen Struktur von Ayhan Bora Kaplan beheimatet sein soll. Sertçelik sprach dabei von einem Komplott gegen Kabinettsmitglieder, auch ehemalige, wie dem Innenminister Süleyman Soylu, von einem abgetakelten Spiel gegen die Koalitionsregierung. Als Hebel sollen Ayhan Bora Kaplan und er dienen, hätten unter Zwang als Kronzeugen gegen namhafte Politiker aussagen und belasten sollen, seien ihm hierzu vorgedruckte Geständnisse vorgelegt worden, die er unterschreiben sollte.
Nach dem Korruptionsskandal von 2013 und dem Skandal um den türkischen Nachrichtendienst MIT, der 2013 angeblich Waffen an die IS geliefert haben soll - Can Dündar hatte das zwar in die europäischen Gazetten getragen, sich aber nach Jahren von dieser Aussage wieder notgedrungen und klammheimlich während einer ZDF Talkshow mit Markus Lanz distanziert - nun ein weiterer Skandal, der die Regierung diesmal mit Mafia-Verbindungen zu Fall bringen soll?
Nicht überraschend, wenn man seit mehr als einem Jahrzehnt die erhobenen Korruptionsvorwürfe - u. a. von Erk Acarer, Cevheri Güven oder Can Dündar - verfolgt und nüchtern feststellen muss, dass die Vorwürfe inhaltlich bislang nicht bekräftigt werden konnten.
Das Ergebnis nach bekanntwerden der Details von Sertçelik: seit dem 9. Mai wurden 8 Polizeibeamte im höheren Dienst des Polizeipräsidiums in Ankara, darunter Murat Çelik, Kerem Öner und Şevket Demircan erst vom Dienst suspendiert, dann festgenommen. Sie stehen seither unter Verdacht, ein Komplott organisiert und dabei u. a. Beweise fingiert, "Kronzeugen" rechtswidrig außer Landes gebracht und bedroht haben.
Die Blicke haben sich von den suspendierten und verhafteten Polizeibeamten abgewendet und richten sich seitdem u. a. auf Engin Dinç, dem Polizeidirektor von Ankara, der schon als Polizeipräsident von Trabzon beim Mordfall Hrant Dink keine rühmliche Figur abgab und auch sonst in diesem Zusammenhang mit ganz anderen Verfahren zu kämpfen hat, die stets in Richtung Fethullah Gülen zeigen – auch der Mordfall Hrant Dink.
Das Problem besteht darin, dass diese Beamten nicht allein gehandelt haben könnten - so die Mutmaßungen -, ohne dass die Vorgesetzten oder der Polizeipräsident Wind davon bekommen hätten. Es handelt sich nämlich u. a. um eine Verhaftung eines tatverdächtigen Mafiabosses, der in elektronischen Fußschellen kurze Zeit später unter Mitwirkung der beschuldigten Beamten die europäische Grenze überschreitet, um nach kurzer Zeit dann zurückgepfiffen und unmittelbar nach der Landung in Esenboga von selbigen verhaftet zu werden. In einer Zeit, in der nicht einmal mehr türkische Industrielle ohne weiteres ein EU-Visum erhalten, um mit ihren Produkten einer Messe in Europa beizuwohnen, werfen solche Schlagzeilen einen langen dunklen Schatten bis nach Europa.
Das es sich dabei um eine Vorbereitung eines Komplotts handelt, wird durch die bisherigen Untersuchungsergebnisse des Innenministeriums bestärkt, die langsam durchsickern. So sollen die Beamten Kontakt mit den Kronzeugen gepflegt haben, in dem sie die Handys von Mitbeschuldigten der Kronzeugen benutzten und nie die eigenen Dienst- oder Privathandys. Und dann diese Theatralik um die Verhaftung von Ayhan Bora Kaplan, bei der die Polizeibeamten selbst Hand anlegten. Mittlerweile lacht die halbe Türkei über dieses gestellte Szenario in Ankara.
Nichtsdestotrotz lobt sich Erk Acarer selbst für die offensichtliche Erst-Enthüllung, die er aber in einer anderen ihm genehmen Konstellation vorstellt. Er sei es, der diesen Skandal in Ankara eigentlich aufgedeckt habe; versucht dabei jedoch weiterhin, politische Persönlichkeiten in die negativen Schlagzeilen zu ziehen. Hat Acarer wirklich Recherchearbeit geleistet oder bekam er wie alle anderen den Brandbrief zu Gesicht und verwertete es sofort, ohne nachzuforschen und es bestätigen zu lassen – vielleicht um sich aus dem Schussfeld zu begeben?
Nur zwei Wochen nach Acarer trat Parteichef Devlet Bahceli vor die MHP-Fraktion, warnte eindringlich vor einem Komplott, die der Regierung, der Koalitionspartei MHP, der Rechtstaatlichkeit und Mitgliedern der großen Nationalversammlung schaden solle.
Bahceli und viele andere Parteichefs des türkischen Parlaments, die Ministerien wie auch die Polizeibehörden und Medien, hatten jedoch von Serdar Sertçelik dieselbe Hiobsbotschaft als Brandbrief erhalten. Wann dieser Brief an die Adressaten verschickt wurde, ist nicht bekannt. Man geht aber davon aus, dass die Angeschriebenen sich erst vergewissern wollten, wer der Verfasser ist, ob der Inhalt für bare Münze genommen werden kann und ob die Vorwürfe stimmig sind, um damit an die Öffentlichkeit zu treten.
Bahceli trat also genau 10 Tage nach Erk Acarer vor die MHP-Fraktion und sprach erstmals über diesen "Komplott" gegen seine Partei wie auch die Regierung. Offensichtlich waren die Erläuterungen im Brandbrief bis dahin gegengecheckt worden und man hielt es schließlich für wichtig, damit an die Öffentlichkeit zu treten. Aber wieviel Zeit hatte Acarer, die Angaben aus Deutschland heraus zu überprüfen und beinahe zeitnah die Hiobsbotschaft loszuwerden? Kurios dabei: in seiner YouTube-Folge mit Serdar Sertçelik, flippte Acarer geradezu aus, als Serdar Sertçelik immer wieder betonte, dass das Ziel die Türkei, die Regierung und Kabinettsmitglieder seien.
Es gab in diesem YouTube-Video für Acarer nur eine richtige Antwort, die von ihm akzeptiert werden konnte, um seine Vorwürfe gegenüber der türkischen Regierung weiterhin aufrechtzuerhalten. Nur eine Antwort die Serdar Sertçelik bei ihm geltend machen konnte, sich jedoch nicht beugte und bei seiner Feststellung blieb. Sertçelik musste ja schon einmal als Kronzeuge den Polizeibeamten unfreiwillig die vorgegebene Antwort geben, und jetzt sollte er danach auch einem aus Deutschland nachgeben, dass zu sagen, was man von ihm verlangt. Er tat es jedoch nicht.
Die große Frage lautet derzeit in der Türkei: Hat Deutschland, hat der Westen hier erneut seine Finger im Spiel und sind Erk Acarer, Can Dündar oder Cevheri Güven nur Marionetten eines großangelegten Komplotts gegen die türkische Regierung? Bei den Letzteren ist man sich sicher! Beweggründe gibt es zuhauf, was Europa bzw. den Westen anbelangt: Der Konflikt der Türkei mit der PKK in Nordsyrien und Nordirak; die Haltung zu Israel; die Haltung zu Libyen und in diesem Zusammenhang das Seerechtsabkommen, die den Transport von Gas aus dem Erdgasfeld Leviathan nach Europa verkompliziert; und natürlich die Zypern-Frage.
Die Geschichte des Nahen Ostens hat gezeigt, dass genehme Regierungen länger an der Macht bleiben als unangenehme und im Widerspruch zu den westlichen Interessen stehende Regierungen. Dabei hat auch Deutschland seinen Stempel aufgedrückt, wenn auch nur als williger Helfer.
Das muss nicht meine Meinung widerspiegeln, dass ist nur meine Beobachtung dazu, denn dies ist derzeit das Gesprächsthema in sehr vielen politischen Talkshows in der Türkei. Gründe gibt es genug: Die "Operation Rubikon", bei der Deutschland half, das Verbündete wie die Türkei abgehört werden, oder der Lauschangriff auf die Türkei, die 2014 publik wurde...
Die Türkei hat sich nach der Aufdeckung der FETÖ, vor allem nach dem gescheiterten Putschversuch gesamtgesellschaftlich verändert; das sagt auch der ehemalige Oberst Gürsel Tokmakoglu. Als Opfer der Fethullah Gülen-Sekte standen ihm vor einem Jahrzehnt weder Medien, noch die Politik beiseite, so Tokmakoglu in einem Beitrag auf X. Laut eigenen Angaben hätten alle mit der Begründung abgewiegelt, ebenfalls bedroht zu werden. Das Ergebnis sei gewesen, dass Personen wie Adil Öksüz, Ramazan Akyürek und weitere, Ihre Plätze eingenommen und sich 10 Jahre lang auf den Putsch vorbereitet hätten. Tokmakoglu zufolge gebe es dahingehend wieder Aktivitäten im Land, deren Ziel es sei die Regierung zu stürzen. Er sei aber zuversichtlich, dass man es diesmal ohne Märtyrer wie in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 diese schwere Zeit meistern werde. Diesmal würden die Medien und die Politik zuhören und entsprechend handeln, seien wachsamer als zuvor, so Tokmakoglu.