Griechenland überschreitet Grenzen

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat Griechenland am Samstag in Anlehnung an den 9. September 1922 an die Schmach von Izmir erinnert. Wenn Griechenland weiterhin türkischen Luftraum verletze oder türkische Kampfjets mit dem Zielverfolgungsradar erfasse, könne es eines Nachts schwere Folgen nach sich ziehen, so Erdoğan.

Die Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland ebben nicht ab. Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass die NATO nicht beabsichtigt, im Streit zwischen den Mitgliedsstaaten zu vermitteln oder beilegen zu lassen. Die USA weiten derweil ihre Präsenz in Griechenland aus, während Frankreich in Nordafrika die Türkei zu diskreditieren versucht und Griechenland aufrüstet.

Griechische S-300 erfasste türkische F-16

Jüngst erfasste ein bodengestütztes Zielverfolgungsradar einer russischen S-300-Luftverteidigungssystem, das auf der griechischen Insel Kreta stationiert war, am 23. August ein türkisches F-16-Kampfflugzeug, das sich auf einer NATO-Mission in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer befand. Der letzte Schritt also, bevor man den Abzug der Waffe drückt.

Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar forderte die NATO unmissverständlich auf, diese feindselige Haltung Griechenlands gegenüber einem anderen Mitgliedsstaat zu verurteilen, vor allem wenn es sich dabei um eine offizielle NATO-Mission handle. Beweise dafür werde er Brüssel zur Verfügung stellen, so Akar weiter.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan drohte am Samstag Griechenland erneut Konsequenzen an, sollte sie die Politik der Eskalation fortsetzen. Athen werde einen „hohen Preis“ dafür zahlen, wenn es weiterhin den türkischen Luftraum verletze und türkische Kampfjets über der Ägäis „bedrängt“, sagte Erdoğan während eines Auftritts beim größten Luft- und Raumfahrt sowie Technologiefestival in der Stadt Samsun am Schwarzen Meer, dem Teknofest.

Hey Griechenland, schau Dir die Geschichte an. Wenn Du weiter gehst, wirst Du einen hohen Preis zahlen.

Recep Tayyip Erdoğan am 3. August in Samsun

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Griechenland und die Türkei werfen sich gegenseitig regelmäßig Verletzung von Grenzen und Verträgen vor. Fast täglich gibt es zudem Aufklärungsflüge beider Länder, vor allem rings um die griechischen Inseln nahe der türkischen Küste. Griechenland wirft der Türkei vor, mit unbemannten Flugzeugen (UAV), wie der Bayraktar TB2 oder der TAI Anka, griechischen Luftraum über den ägäischen Inseln zu verletzen, während die Türkei Griechenland vorwirft, türkische Gewässer und den türkischen Luftraum, Menschenrechte in Zusammenhang mit Flüchtlingen sowie die Rechte der türkischen Minderheit in Griechenland zu verletzen.

Griechen zeigen sich besorgt über den technologischen Fortschritt

Nach griechischer Lesart zeigt man sich über die erstarkte türkische Rüstungspolitik besorgt, die in nur wenigen Jahren eine ganze Flotte von Aufklärungs- und Kampfdrohnen entwickelt habe und im Bestand des Militärs unterhalte. Über 180 Stück der Bayraktar TB2 sowie über 40 TAI Anka und eine unbestimmte Menge an weiteren TUSAS Aksungur Kampfdrohnen sollen sich im Bestand der türkischen Luftwaffe, der Marine und des Heeres befinden.

Am Samstag präsentierte der CEO der Baykar Technology, Selçuk Bayraktar, während des Festivals in Samsun, den Prototyp des neuen unbemannten Kampfflugzeugs „Kızıl Elma“ („Roter Apfel“), das voraussichtlich im März 2023 zum Erstflug aufsteigen soll. Eine Kampfdrohne mit Stealth-Eigenschaften, die vor allem Griechenland sorgen bereitet.

Als wichtigste unbemannte Kampfdrohne – und vielleicht das erfolgreichste – gilt „Bayraktar TB2“. Mindestens 300 solcher Flugzeuge wurden bislang produziert und das türkische Militär besitzt mehr als 180 davon im Inventar. Es kann für gezielte Angriffe auf Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sowie gegen Kampfflugzeuge oder Kampfhelikopter eingesetzt, aber auch als Aufklärungsflugzeug verwendet werden. Der Exporterfolg dieser Drohne ist beachtlich, da sie bislang nach Aserbaidschan, in die Ukraine, nach Katar, Libyen, Turkmenistan, Nigeria und Pakistan verkauft oder geleast wurden. Und, es gibt auch Berichte über Leasingverträge mit Äthiopien, Dschibuti und Kirgisistan. Polen hat ebenfalls 24 Stück der „Bayraktar TB2“ bestellt.

Die TB2 Drohnen haben ihre Fähigkeiten in Konflikten wie in Bergkarabach bewiesen, wo Aserbaidschan entscheidende Vorteile gegenüber Armenien bei der Befreiung okkupierter Gebiete, wie auch bei ukrainischen Angriffen auf russische Streitkräfte auf ukrainischem Territorium, verzeichnen konnten.

Griechenland wirft der Türkei vor, in den letzten Monaten den Einsatz von Drohnen (UAV) erhöht zu haben, mit der Folge, dass seit Jahresbeginn die griechische Luftwaffe bis gestern insgesamt 257 unbemannte Flugzeuge über dem Luftraum registrierte. Im Laufe des Jahres seien das mehr als die Hälfte der rund 4.800 mutmaßlichen Verstöße, die man registriert habe.

Desolate Flüchtlingspolitik der Griechen und der EU

Die Türkei wiederum ruft die Europäische Union und die Vereinten Nationen auf, Griechenland für ihre Flüchtlingspolitik zu verurteilen, die in der Ägäis mit Gewalt durchgesetzt werde. Ankara wirft Griechenland weiterhin vor, mit der griechischen Küstenwache oder der Marine Flüchtlinge mit Gewalt abzudrängen und dabei türkische Gewässer zu verletzen. Dabei sollen vermehrt auch Luftraumverletzungen durch die griechische Luftwaffe begangen worden sein.

Griechenland und die Minderheitenrechte

Ankara wirft Griechenland zudem vor, entgegen des Lausanner und Pariser Vertrags Minderheit im Land zu unterdrücken, deren Rechte zu beschneiden. Dabei geht es vor allem um die  türkisch-muslimischen Minderheit. Besorgt zeigt sich Ankara auch über die massive Militarisierung griechischer Inseln nahe dem türkischen Festland. Aber auch die massive Militärpräsenz der USA, die auf dem griechischen Festland nahe der griechisch-türkischen Grenze bzw. im gesamten Kernland in nur wenigen Monaten angesiedelt wurde, bereitet Ankara Kopfzerbrechen.

Ankara zeigt sich besorgt über die Rhetorik Griechenlands

Es ist inzwischen kein Geheimnis mehr, dass die Türkei mit der Militarisierung der ägäischen Inseln durch die griechische Regierung unter Verletzung der Verträge von Lausanne und Paris und mit der militärischen Aufrüstung durch die USA unzufrieden ist. Um die Sorgen Ankaras zu vertiefen, versuchte der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis, den US-Kongress zu überzeugen, die Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen an die Türkei nicht zu unterstützen, nachdem er zuvor Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Hand gegeben hatte. Dieser Schritt hat nach Ansicht Ankaras die Bemühungen zur Normalisierung untergraben.

In Griechenland stehen Wahlen an

In Griechenland, wo die Nachbeben eines Abhörskandals gegen eine Oppositionspartei und Journalisten des Landes immer noch zu spüren sind, bereiten sich die verschiedenen politischen Parteien auf vorgezogene Neuwahlen im Oktober vor, die nicht mehr nur vage zu sein scheinen. Premierminister Mitsotakis, der im Wahlkampf die Türkei-Karte ausspielen möchte, scheint eine gefährliche Eskalationspolitik zu betreiben – wie der jüngste Einsatz der S-300 gegen eine türkische F-16 deutlich zeigt.

Der wachsende Einfluss der Türkei, die in den letzten Jahren eine aktivere Rolle in regionalen und globalen Themen gespielt hat, bietet sicherlich ein Stück weit rhetorische Munition für griechische Politiker, darunter Premierminister Mitsotakis selbst, der angesichts der steigenden Energiepreise mit der Unzufriedenheit des Wahlvolks zu kämpfen hat.

Mitsotakis bedient sich bei seiner aggressiven Rhetorik gegenüber Ankara auch ein Stück weit mit dem Engagement der USA und Frankreichs in der Region, die offensichtlich als Garantiemächte die Eskalation mit der Türkei begleiten sollen. Die Situation belastet daher nicht nur die Beziehungen zwischen den beiden NATO-Verbündeten, sondern untergräbt auch die Einheit des Bündnisses, so die Schlussfolgerung der türkischen Regierung.

SETA: Türkei spielt in einer anderen Liga

Laut der türkischen Denkfabrik SETA sprengt das diplomatische Engagement der Türkei in der Region und global die Vorstellungskraft der Griechen, da Ankara nicht nur mit regionalen Machthabern verhandle, sondern es mit Großmächten zu tun habe. Dementsprechend würde Ankara es vorziehen, mit seinem Nachbarn zusammenzuarbeiten, anstatt weitere Spannungen zu schaffen. Das bedeute jedoch nicht, dass die Türkei die Augen vor den Versuchen Griechenlands verschließen würde, bestimmte Bedingungen im Schulterschluss mit EU oder der USA durchzusetzen.

Folgendes müssten demnach die westlichen Regierungen und Athen im Auge behalten: Zwischen der Türkei und Griechenland gebe es große Meinungsverschiedenheiten zur Problematik in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer – etwa bei der Abgrenzung der Hoheitsgewässer und des Luftraums, der Entmilitarisierung der Ägäischen Inseln und des Status Zyperns – die ziemlich festgefahren sind. Diese Probleme werden ganz sicher nicht durch „Machtrivialität“, mit vollendeten Tatsachen oder durch Unterstützung Dritter aus der Welt geschafft, so die SETA.

Während die Türkei mit ihrem hundertjährigen Bestehen eine symbolische Schwelle betritt, bereiten sich beide Länder, die Türkei und Griechenland auf die bevorstehenden Wahlen vor. Offensichtlich will Premierminister Mitsotakis auf eine Eskalation mit Ankara setzen, um bei der Wahl besser abzuschneiden. Es ist durchaus möglich, dass Mitsotakis zum jetzigen und späteren Zeitpunkt ein oder mehrere Statements von Erdoğan zu den umstrittenen Themen erwartet und geradezu als willkommenen Anlass für den Wahlkampf verwenden wird. Angesichts der bevorstehenden Wahlen laufen die anhaltenden Spannungen Gefahr, sich in einen gefährlichen Strudel zu verwandeln, die die Beziehungen nachhaltig stören werden.