Erdoğan nach der Kommunalwahl: Gewinner ist das Volk

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Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte nach der Kommunalwahl in der Türkei, dass das Volk von 85 Millionen der eigentliche Gewinner sei. „Der 31. März ist nicht das Ende, sondern ein Wendepunkt für uns. Bei den Kommunalwahlen hat das türkische Volk die Wahlurne erneut als Gelegenheit genutzt, um seine Botschaften an die Politiker zu übermitteln“, erklärte Erdoğan in seiner Ansprache an die Bürger und „Unabhängig vom Ergebnis ist der Gewinner dieser Wahl in erster Linie unsere Demokratie, der nationale Wille.“

Sein vermeintlicher Kontrahent Özgür Özel (CHP) hatte zuvor ebenfalls versöhnliche Töne eingestimmt, obwohl doch seine Partei die Anzahl der Bürgermeister beinahe verdoppeln konnte. Der CHP-Vorsitzende Özel sagte, das Ergebnis der Wahlen werde „für niemanden eine Niederlage sein.“ Was ist passiert?

Wie schon festgestellt, gewann die größte Oppositionspartei CHP auf dem Papier 404 Bürgermeisterämter. Das ist gegenüber 2019 ein Zuwachs um 164. Dagegen verlor die amtierende Regierungspartei AKP 265 Ämter. Das ist tatsächlich ein immenser Verlust von Amtsstuben für die AKP, und ein merklicher Gewinn für die CHP.

Jetzt also darf die CHP in weiteren Städten mit neuem Elan die städtischen Buslinien koordinieren, beherzt die Sanierung von Kanalisationen anpacken, mit gutem Beispiel voran die städtischen Alleen mit Bäumen zupflastern; und sich währenddessen mit der HEM-Kandidatin von Istanbul, Meral Danış Beştaş, streiten, die vorgibt und damit prahlt, die eigenen Stimmen dem CHP-Spitzenkandidaten von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, zugeschanzt zu haben.

Verstehen sie mich nicht falsch, aber zusammengefasst darf die CHP weiterhin nicht in der Außenpolitik mitmischen, in der inneren Sicherheit hat sie weiterhin nichts zu sagen und in Bezug zur Haltung gegenüber der Terrororganisation PKK, darf sie weiterhin zuschauen, wie man Terrorismus im In- wie Ausland bekämpft, während man sich mit der PKK-Spitzenkandidatin für das Bürgermeisteramt von Istanbul herumärgern muss, die nach der Wahl und einem Spitzenergebnis von 2,11 % einem die Leviten liest und das Amt streitig macht. Es ist eben nur eine Kommunalwahl gewesen.

Das heißt aber auch, dass die AKP im wahrsten Sinne des Wortes vom Volk eine osmanische Klatsche eingefangen hat; auch und weil AKP gegenüber 2019 jetzt Millionen Stimmen gefehlt haben und die CHP davon kaum Stimmen abstauben konnte. Wo sind dann die Stimmen hin? Die meisten Wähler blieben dem Wahlspektakel ganz einfach aus Trotz fern und die restlichen wählten aus Protest die Yeniden Refah Partisi („Neue Wohlfahrtspartei“) unter dem Vorsitz von Fatih Erbakan. Der freut sich wie Schmidts Katze, weil er die Provinzhauptstädte Şanlıurfa und Yozgat gewonnen hat.

Man kann jetzt tief und breit darüber debattieren, was die Wähler letztlich bewegt hat, der AKP die gelbe Karte zu zeigen und weshalb die CHP nach 1989 ihren ersten "fulminanten Sieg" einfahren konnte. Für die türkische Politik ist das nicht weiter tragisch. Unterm Strich muss die CHP in den nächsten 5 Jahren beweisen, dass sie diesen Vertrauensvorschuss in den Kommunen verdient hat und die AKP muss sich mit der MHP auf das zurückbesinnen, was sie bislang ausgemacht hat und aus den gemachten Fehlern lernen: ein stetiges Wirtschaftswachstum und Sozialpolitik, der allen zugutekommt sowie eine nationale Sicherheitspolitik, die das Land verdient hat. 

Ob beide das schaffen, werden wir in den nächsten Jahren feststellen, während die HEM - wenn sie sich nicht erneut umfirmiert, um sich vor dem Zugriff des Verfassungsgerichts zu entziehen - sich den nächsten lächerlichen Coup ausdenkt, wie die AKP die Wahlen manipuliert und die Herrschaft an sich reißen wollte. Das ist nämlich die einzige Konstante bei den bisherigen Wahlen, die ja laut AKP- und Erdoğan-Kritikern stets unfair und manipulativ verlief. Dafür freuen sich diese jetzt umso mehr über den kommunalen Wahlsieg der Opposition und haben die gemachten Wahlbetrugsvorwürfe längst wieder vergessen. Und dann erst die europäische Presse und das kritische Politbüro, das während des Wahlkampfs auffällig ruhig war und sich in Sachen Kritik geradezu beängstigend zurückhielt. Was könnte hier der Grund sein?