Das Monster in unseren Reihen - Shireen Abu Akle

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Es waren schreckliche Szenen, die um die Welt gingen, als der Trauerzug für die getötete Journalistin Shireen Abu Akle durch Ost-Jerusalem, von israelischen Sicherheitskräften attackiert wurde. Für einen Augenblick hielt ich als Beobachter inne, als die Sargträger deshalb die Kontrolle über den Sarg verloren und zu stürzen drohten.

Was veranlasst eigentlich israelische Sicherheitskräfte, zu solchen drastischen Mitteln zu greifen? Obrigkeitshörigkeit, Gruppenzwang, die unter ungünstigsten Bedingungen zu Vorfällen wie der Ermordung der 51-jährigen Journalistin Shireen Abu Akle führen?

Es ist mir unbegreiflich! Unbegreiflicher finde ich nach diesem schrecklichen Vorfall die Erklärungsversuche von Menschen, die Intelligenz sprießen, psychisch gesund scheinen, aber innerhalb kürzester Zeit ihr Bedürfnis nach moralischer, zwischenmenschlicher oder gesellschaftlicher Korrektheit ablegen und offenbar nach sozialer Anerkennung suchend, in einer Art Gruppenzwang sowie Bringschuld, fatale Entscheidungen treffen, die die tiefsten menschlichen Niederungen offenbaren.

„Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.”

Zahlreiche Kommentare, Kritiken und Seitenhiebe von Kombattanten in der Vergangenheit sind Beweis dafür, wie Gruppenzwang in Verbindung mit der Suche nach sozialer Anerkennung sowie Bringschuld die Selbstkontrolle aushebeln. Hier prägen vor allem die hohe Reizdichte und entsprechende Reaktionsfreudigkeit von mehreren Personen meine Wahrnehmung, die dabei unentwegt Kritik an einer Kritik üben: Eren Güvercin, vor allem aber in diesem Zusammenhang Murat Kayman.

Die Kritik von Murat Kayman über Twitter gegenüber Mehmet Alparslan Çelebi in Zusammenhang mit der Trauerprozession in Ost-Jerusalem zeigt anschaulich, welche Kräfte da wirken, welche moralischen Niederungen man betritt, welche Positionen dabei wacker verteidigt bzw. welche Positionen verfestigt und aufoktroyiert werden:

„Es gibt mindestens zwei Versionen der Deutung dieser Bilder. Entwürdigen israelische Sicherheitskräfte aus rassistischen Motiven eine Trauerfeier bzw Bestattung? Oder versuchen sie auf Verlangen der Familie der Toten, ihren Sarg zurückzuholen, der zuvor von Gewaltbereiten entwendet wurde, um ihn für eine politische Propaganda zu missbrauchen? Ich weiß es nicht. Beides ist möglich. [...]”

Es gibt nicht mehrere Versionen zu einer Szene, sondern nur eine: Ein Trauerzug wird samt Sargträgern niedergeknüppelt. Den Teil mit dem Trauerzug an sich lassen wir weg. Der Teil, wo die Sargträger ihr Fett wegbekommen, ist entscheidend. Es gibt keine alternativen Gründe, weshalb israelische Sicherheitskräfte ausgerechnet Sargträger niederknüppeln müssten, damit der Sarg - beabsichtigt - auf dem Boden aufschlägt, bzw. damit die „Ordnung” aufrechterhalten wird.

Es gab für die israelischen Sicherheitskräfte aber offensichtlich viele Gründe, den Trauerzug wie vorgesehen zu attackieren. Noch vor dem eigentlichen Trauerzug wurde der Bruder der ermordeten Schireen, Anton Abu Akleh, zu einer Polizeiwache gerufen, um ihm zu erklären und eindringlich zu warnen, dass die Polizei Maßnahmen ergreifen würde, um „die Ordnung aufrechtzuerhalten“, falls er bei der Beerdigung seiner ermordeten Schwester, nicht persönlich die Menschenmenge unter Kontrolle bringen würde. Das war nichts weiter als ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Es musste also so kommen, wie es gekommen ist. Der Trauerzug begleitete die Sargträger mit der Leiche von Schireen. Der Journalistin, die als Ikone den Konflikt zwischen Palästinensern und dem israelischen Staat mehr als 25 Jahre durchleuchtete und in die Welt trug. Einem Trauerzug, die mit demselben Zorn und Ohnmacht begleitet wurde, die man seit der Besatzungszeit als Außenstehender kennt.

Genau auf das setzte offensichtlich auch die Polizei, die klassisch konditioniert beim Anblick von Journalisten, Journalistinnen, Sanititätsmitarbeiter/innen oder wütenden und ohnmächtigen Palästinensern reflexartig reagierte. Sie sabberte förmlich, wollte ihr Dasein begründen.

Das Dasein und Wirken der israelischen Sicherheitskräfte wird jetzt im Nachgang wie immer von Kollaborateuren in Deutschland gedeckt, beschönigt oder mit alternativen Erklärungsversuchen bereichert. Ganz genau im Sinne der Jerusalemer Polizei, die jetzt u.a. behauptet, die Familie Akleh habe dieser Prozession nicht zugestimmt. Hier wird also die Familie in Regress genommen, um das eigene Tun zu rechtfertigen.

Und was sagte die Familie Akleh zu den Szenen? In BBC-Radio erklärte der Bruder von Schireen:

„Wir waren schockiert, als sie anfingen, Menschen zu schlagen, Blendgranaten und Tränengasgranaten zu werfen, [...] das geschah ohne jede Warnung.“

Jetzt kommt trotz dieser im Netz leicht recherchierbaren Fakten ein intelligenter, psychisch gesunder Murat Kayman und sabbert gegen Mehmet Alparslan Çelebi, der es sich ja zur Aufgabe gemacht hätte, Propaganda zu betreiben. Dabei macht sich Murat Kayman selbst nicht einmal mehr die Mühe, Sympathie für die Tote vorzutäuschen oder für die Reaktion von Çelebi eine alternative Erklärung zu suchen. Das ist auch ein entscheidendes Merkmal dieser Kombattanten.

Es geht hier um weitaus mehr, als nur einer Randnotiz aus Ost-Jerusalem. Es geht um Diskreditierung, um Entmenschlichung einer Person, die einerseits in irgendeiner Art und Weise die deutsche islamische Präsenz mit vertritt. Andererseits der Verbitterung über die verlogene Doppelmoral in Deutschland eine Stimme gibt. Palästinenser, Schireen Abu Akleh haben hierbei zunächst keinen Platz.

Wieso eigentlich nicht? Wessen Geistes Kind sind diese Kritiker von Kritikern? Sollen Palästinenser oder ihre Ikonen in diesem digitalisierten Krieg keinen Raum für Empathie finden, sogar keine Nuancen davon mitbekommen? Glaubt man ernsthaft der Ohnmacht und dem Zorn in diesem Land Herr zu werden, in dem man bestimmte Personen und Verbände diskreditiert? Dann unterschätzen diese Personenkreise die weltweite Verbitterung zur Lage in Ost-Jerusalem, Westjordanland oder Gazastreifen. Dann haben sie den Knall noch nicht gehört oder haben dieser „Ordnung” geschworen.