Die Istanbuler CHP-Vorsitzende Canan Kaftancıoğlu gilt in Europa als eine der aufsteigenden Politstars der Türkei - zumindest wird sie aufgrund ihrer politischen Präferenzen vor allem in Europa so gehandelt. Wie ernüchternd muss es wohl für jene sein, wenn diese Frau an einer Veranstaltung teilnimmt, dass sogenannten Demokraten, Laizisten und Säkularen Alpträume bereitet?
Canan Kaftancıoğlu fügte mit ihrer legendären Wahlkampagne dem türkischen Präsidenten die empfindlichste Niederlage seiner Karriere zu, in dem sie den Bezirksbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, auf den Sitz des Oberbürgermeisters hievte. Dabei nahm sie kein Blatt vor den Mund, um angefangen von der Islamisierung bis hin zum Nationalismus alles in Grund und Boden zu reden.
Dabei kam Kaftancıoğlu mehrfach auch in Konflikt mit Fatih Erbakan, dem Sohn von Necmettin Erbakan, der mehr schlecht als recht in die Fußstapfen seines Vaters treten will und dabei die Seitenhiebe Kaftancıoğlus gegen seinen Vater zu verteidigen versuchte.
Doch die emotionale Wahlkampagne ist vorbei, die Streitpunkte mit Fatih Erbakan beigelegt. Kaftancıoğlu beschäftigt sich vielmehr mit sich und der politischen Karriere, mischt im deutschen Wahlkampf für die sogenannte Schwesterpartei SPD mit, wird im Gegenzug von der SPD, aber auch parteiübergreifend in höchsten Tönen für ihren Kampf gegen Islamismus und Nationalismus in der Türkei gelobt.
Es gibt aber auch eine andere Seite von Canan Kaftancıoğlu. Die einer nüchternen Opportunistin, die weiß, wie sie sich wann und an welchem Ort wie zu verhalten hat. Deswegen verwundert es Türkei-Kenner nicht wirklich, wenn am heutigen Tag Canan Kaftancıoğlu mitsamt Mitstreitern stramm vor dem Bildnis von Necmettin Erbakan stehen und eine Schweigeminute einlegen. Geschehen in Ankara, im Kongresszentrum, heute.
Weitere Anwesende: Der OB von Ankara, Mansur Yavaş, der iranische Botschafter Muhammed Farazmand, CHP-Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu, AKP-Generalsekretär Mahir Ünal, HDP-Co-Vorsitzende Mithat Sancar, Saadet Partei-Vorsitzender Temel Karamollaoğlu, DP-Vorsitzende Gültekin Uysal, DEVA-Vorsitzender Ali Babacan, Zukunftspartei-Vorsitzender Ahmet Davutoğlu, İYİ-Parteisekretär Nuri Okutan sowie der BBP-Parteisekretär Tevfik Eren, die allesamt überschwänglich Reden über den Verstorbenen abhielten.
Nicht missverstehen! Das ist nicht der erste Jahrestag, es ist der zehnte Jahrestag und an allen Gedenken zum Todestag des sogenannten „islamistischen türkischen Politikers" waren alle Parteien bislang beteiligt. Das ist aber nicht nur auf Erbakan beschränkt. Diese Geste zeigten ausnahmslos alle Parteiführer und Parteigrößen auch gegenüber Alparslan Türkeş, dem sogenannten „türkischen neofaschistischen rechtsextremen Politiker."
Bei jeder Veranstaltung in dieser Art, stehen ausnahmslos alle stramm und geben sich besonders viel Mühe, am Rednerpult oder gegenüber den Witwen oder Hinterbliebenen sowie dem Volk ihr ausdrückliches Beileid zu bekunden und dabei besonders zu betonen, welch glorreichen Leistungen diese verstorbenen Politiker einst für das Land erbracht haben.
Ob die Teilnahme an diesen oder anderen Jahrestagen den Höhenflug der 49-jährigen Ärztin Canan Kaftancıoğlu in der Türkei oder in Europa entscheidend stören wird? Wohl kaum! Politik ist ein schmutziges Geschäft und verdirbt den Charakter, nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa. Aber in Europa versucht man noch immer, den Eindruck zu erwecken, die politischen Lager in der Türkei wären stark zerstritten. Das wird zudem tatkräftig unterstützt, in dem man Partei ergreift oder versucht miteinander widerstrebende Interessen aufzuspalten und zu kategorisieren.