Die Türkei ist fest entschlossen, die ihr von Russland und den USA gemachten Zusagen selbst umzusetzen: Die völkisch-kurdische YPG weit über 30 km ins Landesinnere zu vertreiben. Doch dort droht der künstlich-erhaltenen sogenannten „kurdischen Selbstverwaltung“ das jähe Ende.
YPG steht unter immensem Druck
Der syrische Ableger der Terrororganisation PKK, die völkisch-kurdische YPG, steht unter immensem Druck. Ihre einstige Existenzgrundlage ist weggebrochen: der Islamische Staat. Gefahr droht nicht mehr vom islamischen Kalifatsstaat, sondern vielmehr vom türkischen Staat, die seit Jahren mit Russland und den USA eine weniger gewalttätige Lösung anstrebt, um die YPG/PKK vom Vorgarten der Türkei fernzuhalten.
Washington und Moskau saßen das Problem aus
Bereits 2018 signalisierte Washington, die YPG aus der Sicherheitszone zu verdrängen. 2019 folgte dann Russland und sicherte der Türkei zu, die YPG in den Griff zu bekommen und 30 km tief ins syrische Landesinnere zu verdrängen. Passiert ist bis heute nichts.
YPG/PKK liefert Türkei weiteren Vorwand
Die YPG/PKK liefert Ankara ständig Vorwände, um militärisch vorzugehen. Allein in diesem Jahr verübten YPG/PKK-Terrorzellen in den von der Türkei kontrollierten syrischen Sicherheitszonen über 64 Terroranschläge. Die YPG/PKK lieferte zuletzt am 13. November der Türkei auf dem Silbertablett einen weiteren Grund, einen massiven Gegenschlag zu provozieren. In Istanbul starben bei einem Bombenanschlag 6 Menschen, 81 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.
Diplomaten und Experten warnen seit Jahren
Seither warnen Ex-US-Diplomaten sowie US-Politiker vor einer Eskalation der Lage mit einem NATO-Verbündeten: der Türkei. Joel Rayburn, Ex-Diplomat und US-Sonderbeauftragte für Syrien, erklärte bereits am 14. November, dass die Biden-Administration diesen Konflikt nicht mehr ignorieren dürfe und eine nachhaltige Lösung finden müsse. Ansonsten riskiere Washington, einen wichtigen Verbündeten nachhaltig zu vergraulen, so Rayburn.
Die Krise schwelt eigentlich seit 2019. Schon damals betonte der Politikwissenschaftler Michael Doran während eines Vortrags am Hudson Institute, dass die USA sich aus Nordsyrien heraushalten sollte, um das Verhältnis mit der Türkei nicht überzustrapazieren.
Michael Doran zufolge habe Ankara bereits 2019 unmissverständlich klargemacht, wie sie zur Präsenz der YPG/PKK in Nordsyrien steht. „Das Ergebnis ist in Stein gemeißelt“, sagte Doran und stellte damit klar, dass Ankara die Anwesenheit der YPG/PKK unmittelbar an ihrer Grenze auf keinen Fall dulden werde. Ankara werde ihr möglichstes Tun, um das Problem auf diplomatischem Wege zu lösen. Sollte das wider Erwarten nicht fruchten, müsse man mit einer weiteren Bodenoffensive Ankaras rechnen.
Sprich, der Konflikt zwischen der Türkei und der Terrororganisation YPG/PKK eskalierte nicht erst nach dem 13. November 2022, sondern bereits vor 2019. Washington und Moskau sagten danach der Türkei zu, die YPG/PKK aus einer 30 km tiefen Sicherheitszone in Nordsyrien zu verdrängen. Diese Zusagen wurden jedoch bis heute nicht eingelöst.
Massive Luftschläge in Nordsyrien
Seit vergangenen Sonntag wurden beinahe 500 Ziele im Irak und in Syrien aus der Luft angegriffen. „Bisher wurden 471 Ziele getroffen und 254 Terroristen neutralisiert“, sagte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar. Akar dementierte zugleich Berichte, wonach bei einem Drohnenangriff ein Stützpunkt der US-geführten Koalition getroffen worden wäre. Akar zufolge wurden Luftschläge verübt, die die Verbündeten nicht in Gefahr gebracht hätten.
Ein Offizier des Zentralkommando der Vereinigten Staaten (CENTCOM) im US-amerikanischen Tampa, der namentlich nicht erwähnt werden wollte, erklärte in einem Interview gegenüber einem US-Sender, dass die Raketen 130 m vor dem Stützpunkt eingeschlagen wären. Experten zufolge war das einerseits ein Kompliment an die türkische Militärführung. Andererseits müsse man das aber auch als einen Warnschuss vor den Bug bewerten, so die Experten in einer US-Talkshow. US-Bodentruppen seien aber während der Luftschläge in der Nähe dieser besagten Basis nicht anwesend gewesen, erklärte CENTCOM-Sprecher Col. Joe Buccino.
„Das Messer stößt am Knochen“
Wie ernst es der Türkei darum geht, die YPG/PKK-Problem aus der Welt zu schaffen, erkennt man auch an den Aussagen des türkischen Verteidigungsministers Akar. „Das Messer stößt am Knochen“ hatte Akar erklärt und darauf angespielt, dass die Türkei nunmehr nicht mehr warten, sondern selbst handeln werde.
Türkischen Politikwissenschaftlern und Sicherheitsexperten zufolge bleibt Ankara nur die Option einer Bodenoffensive. Mit reinen Luftschlägen werde nichts erreicht, so die Experten. Man geht sogar davon aus, dass die türkische Militärführung derzeit auf einen günstigen Zeitpunkt wartet und der Befehl des „Oberkommandierenden“ nur noch Formsache ist.
SDF hat dazu beigetragen, dass die Lage eskaliert
Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), ein mehrheitlich von der YPG aufgestellte Milizengruppe in Nordsyrien, hat es selbst zu verantworten, dass sie derzeit Ziel der türkischen Luftschläge ist, meint der syrische Journalist Sherwan Ibrahim. Ibrahim hat sich mit der komplexen Beziehung der SDF mit Washington, Moskau und Teheran intensiv beschäftigt. Seiner Meinung nach habe die SDF Washingtons Ratschläge, sich der YPG/PKK-Elemente zu entledigen, nicht beherzigt. Laut Ibrahim hätte Washington die SDF oft genug dazu gedrängt, ihre Kommandostruktur mit Verbindungen zur PKK aufzulösen, diese zu vertreiben.
Nun droht der SDF insgesamt ein Kontrollverlust über Teile Nordsyriens, sollte das türkische Militär ihre Bodenoffensive starten. 2016 forderte Joe Biden als US-Vizepräsident die SDF noch auf, ihre YPG-Terrorzellen westlich des Euphrats zu verschieben, was nicht umgesetzt wurde. Westlich des Euphrats bedeutet die Region Tall Rifaat sowie Manbidsch.
Letzten Bastionen der YPG/PKK
Doch jetzt droht Ankara auch Manbidsch sowie Tall Rifaat kontrollieren zu wollen, was die Einflusssphäre der SDF wie auch YPG in diesen Regionen stark einschränken würde. Die SDF wie auch die YPG werden das nach Ansicht der niederländischen Politikwissenschaftlerin Rena Netjes jedoch nicht akzeptieren. Würde doch das, so Netjes, der Vertreibung vom Garten Eden gleichkommen. Außerhalb der von der Türkei anvisierten 30 km tiefen Sicherheitszone gebe es für die SDF/YPG keine Existenzgrundlage, da außerhalb dessen die arabische Mehrheit das sagen habe.
Unterdrückung und Vertreibung werden sich rächen
Mit ein Grund ist auch die restriktive Unterdrückungs- und Vertreibungspolitik der SDF/YPG. Und, die Verfolgung Andersdenkender, syrischer oppositioneller Milizen sowie Mitglieder der politischen Opposition im besagten Gebiet. Laut Netjes mit ein Grund, weshalb mit der Vertreibung der SDF/YPG aus den von ihr kontrollierten Gebieten, ihre Existenzgrundlage beraubt sei, die man zuvor mit Unterdrückung und Gewalt erst aufgebaut habe.
YPG/PKK setzt europäische IS-Gefangene als Druckmittel gegen EU ein
Die SDF, vor allem die YPG, macht der derzeit Stimmung mit IS-Gefangenen, die sie in der von der Türkei anvisierten 30 km tiefen Sicherheitszone in Lagern kontrollieren. Die YPG/PKK droht derzeit offen damit, bei einer Bodenoffensive die Kontrolle nicht mehr aufrechterhalten zu können. Die YPG/PKK propagiert, dass die meisten IS-Gefangenen, die aus Europa stammen und europäische Staatsbürger seien, dadurch unkontrolliert nach Europa gelangen könnten. Offensichtlich ein letzter verzweifelter Versuch, auf die europäische Angst und damit auf eine Intervention der EU gegen Ankara zu setzen.
Ankara nicht willens, weiter zu warten
Rena Netjes zufolge werde auch das nicht zum Erfolg führen, da Ankara von Washington, Moskau wie auch Teheran lange genug hingehalten worden sei. Und wie Michael Doran bereits 2016 andeutete und 2019 deutlicher wurde: „Das Ergebnis ist in Stein gemeißelt.“ Ankara sei geduldig, aber auch das finde irgendwann ein Ende, so Doran.
Deutliche Signale die in Washington ankommen
Derzeit setzt Ankara all ihre diplomatischen Hebel an, um die Kriegsparteien in Syrien zur Räson aufzurufen und Terrorismus umfassend zu bekämpfen. Dazu gehört auch, dass der türkische Drohnenangriff auch einen Präzisionsschlag vor einem US-geführten Koalitions-Stützpunkt durchführt. Noch deutlicher konnte Ankara eigentlich kein Signal setzen.
Das kam offensichtlich an. Am Dienstag erklärte John Kirby, Koordinator des Nationalen Sicherheitsrates für strategische Kommunikation, am Dienstag gegenüber Journalisten: „Die Türkei leidet weiterhin unter einer legitimen terroristischen Bedrohung, insbesondere in ihrem Süden. Sie hat sicherlich jedes Recht, sich und ihre Bürger zu verteidigen.“
Ankara scheinen aber diese Lippenbekenntnisse nicht mehr überzeugen zu können.