Der Handel mit Russland geht unvermindert weiter, und das ist manchmal auch notwendig. Ob der Westen, die Türkei, Griechenland, Ungarn oder der Fernost, alle kennen die schmutzigen Geheimnisse eines Krieges. Die Europäische Union etwa nicht?
Es ist das Jahr 1674. Für die Niederlande das Goldene Zeitalter. Durch überseeischen Handel wurde das Land reich, wurde mächtig und beteiligte sich in der Tripelallianz gegen Frankreich. Frankreich willigte 1668 widerwillig dem Frieden von Aachen ein, aber der französische König Ludwig XIV vergaß diese Schmach nicht und nahm die Festungsstadt Grave 1672 ohne viel Gegenwehr von den Niederländern bzw. Holländern ein.
Dann, 1674, sollte Grave vom niederländischen General Carl von Rabenhaupt belagert und wieder eingenommen werden. Rabenhaupt wurde von der niederländischen Republik dazu verpflichtet. Nach einer langen Belagerung wurde die Stadt von Statthalter William III, Prinz von Oranien, befreit.
Mit ein Grund dafür, dass die Franzosen die Festungsstadt verloren, war, dass die französischen Kommandeure zu viel an Vorrat explosivem Material und Munition eingelagert hatten. Nun befürchteten sie, dass die große Menge an Schwarzpulver auf engstem Raum katastrophale Folgen nach sich ziehen würde, wenn es durch den Beschuss der Belagerer sich selbst entzündet.
Also suchte man nach einer schnellen Lösung und fand einen Käufer außerhalb der Stadtbefestigung. Wenig überraschend lag der angebotene Kaufpreis weit unter dem normalen Preis, aber das war für die Kommandeure der Festungsstadt das geringere Übel. Überraschend war jedoch, dass der Käufer selbst ein Holländer war. Der übergab wiederum das von den Franzosen gekaufte Schwarzpulver den niederländischen Belagerern, die damit die Bombardierung der Stadt intensivierten.
War das jetzt ein Verrat der französischen Kommandeure an König Ludwig XIV, als sie ein Teil des Schwarzpulver-Vorrats an den Feind veräußerten? Und wie verhält sich die Geschichte, wenn die Belagerer nicht erfolgreich gewesen wären? Wären die Holländer und Niederländer Verräter der Republik, weil sie etwas gekauft haben, dass ihnen nichts einbrachte?
Nein! Im Kern suchte eine Partei eine adäquate Lösung und die andere Partei nutzte die Lage konsequent aus. Wer zum Schluss dabei besser abschneidet, steht vorerst noch nicht fest. Erst zum Schluss kann man darüber Resümee ziehen.
In der Geschichte von Kriegen kam es immer wieder zu solch fragwürdigen Handeln. In den 1990´er Jahren verkauften russische Kommandeure und Soldaten Waffen und Munition an ihre ausgewiesenen Feinde: den Tschetschenen. Dennoch, am Ende war die Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, aber auch andere Städte und einige Dörfer weitgehend zerstört, der Widerstand gebrochen.
Der katastrophale Gallipoli-Feldzug des Ersten Weltkriegs war ein verrückter Plan des Ersten Lords der Admiralität Winston Churchill. Um die Pattsituation der Grabenkriege in Frankreich und Belgien zu durchbrechen, dachte sich Churchill laut, die türkische Meerenge der Dardanellen zu erobern, in Richtung Istanbul zu marschieren und das Osmanische Reich in die Knie zu zwingen. Damit wäre auch das Kaiserreich Deutschland geschwächt - so die Schlussfolgerung die man in der Öffentlichkeit kommunizierte.
Aber die schlecht durchdachte und schlecht ausgeführte Landung endete in einem Fiasko, „Gallipoli“ wurde zum Synomym militärischen Versagens. Nach acht Monaten des Kampfes und einer horrenden Zahl von Todesopfern gaben die Alliierten ihren Versuch auf, die türkische Meerenge gewaltsam zu öffnen.
Ein Hauptgrund für den Plan, die Meerenge zu besetzen war, eine sich zusammenbrauende Haushaltskrise über die Lebensmittelpreise einzudämmen. Das wurde nicht nach außen kommuniziert. Der zweite war diplomatisch bedingt und sollte einen sich anbahnenden Streit mit Russland beenden. Die Briten hielten sich nämlich bei der Bitte der Russen zurück, sie finanziell massiv zu unterstützen, um die Ostfront zu halten.
Russland war nämlich auf den Export von Weizen angewiesen, um die Kriegskasse aufzufüllen, die aber langsam zuneige ging, weil die Osmanen die Meerenge kontrollierten. In diesem Zusammenhang wird gegenwärtig weitgehendts genau das vernachlässigt, das Weizenlieferungen der Ukraine einerseits der Ukraine selbst, zum anderen der Nahrungskrise weltweit helfen.
Der britische Kriegsrat dachte damals, es gäbe eine einfache Lösung für beide Probleme: Die Öffnung der Dardanellen, damit Russland seinen Weizen auf ausländische Märkte exportieren kann. So würden die Lebensmittelpreise fallen, Russland davon profitieren. Aber es stellte sich alles andere als einfach dar und demonstrierte, dass die Verflechtung zwischen wirtschaftlicher Globalisierung und Kriegsführung eng verbunden sind.
Angesichts steigender Lebensmittelpreise, die die westlichen Länder ebenfalls treffen und der steigenden Gefahr einer Hungersnot im Nahen Osten und in Nordafrika, die eine weitere Migrationskrise anheizen könnte, setzen sich die politischen Entscheidungsträger mit denselben Verstrickungen wie im Ersten Weltkrieg auseinander und wägen ihre Optionen entsprechend ab.
In der Gegenwart glauben nun die Ukrainer, dass der Handel mit Russland einer fehlgeleiteten Politik folgt und damit der Aggressor nicht in die Knie gezwungen werden kann. Auf der anderen Seite schädigen die bisherigen Sanktionsmaßnahmen der Europäischen Union die eigenen Volkswirtschaften. Das kann zu einer Kriegsermüdung der Völker führen, die angesichts der gestiegenen Energiekosten sich ihrer Solidarität gegenüber der Ukraine nicht mehr sicher sind.
Eines der großen Geheimnisse des Krieges ist, dass Feinde, während sie einander abschlachten, oft weiterhin aus politischen, wirtschaftlichen, moralischen und ja auch militärischen Interessen handeln.
Der Handel zwischen Gegnern umfasst dabei auch Waffen und Treibstoff sowie Lebensmittel und Luxusgüter, stellten die US-amerikanischen Forscher Jack Levy und Katherine Barbieri 2004 in einem Artikel mit dem Titel „Handel mit dem Feind während des Krieges“ fest.
Während des Siebenjährigen Krieges von 1756 bis 1763 importierten die Briten weiterhin französischen Wein und beschlossen, die Lieferungen von irischem Rindfleisch nach Französisch-Westindien nicht einzustellen. Während der napoleonischen Kriege gab es einen regen Handel zwischen den eingefleischten Feinden, wobei die britische Admiralität Brandy von den Franzosen kaufte, um sicherzustellen, dass die Marinesoldaten immer noch ihren „täglichen Pott“ bekommen konnten, wenn Rum knapp war.
Manchmal ist also der Handel mit dem Feind offizielle Politik – wie es während des Krimkrieges war, als das britische Kabinett sorgfältige Berechnungen darüber anstellte, welcher Handel mit dem russischen Zaren zweckmäßig war und den russischen Kriegsanstrengungen nicht helfen würde. Manchmal ignorierten Regierungen die Machenschaften von Schmuggelnetzwerken und Profiteuren – oder gingen selbst geheime Absprachen ein, was sicherlich bis heute der Fall sein wird.
Aufgrund der engen gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen den Gegnern, kann die Sanktionierung des Handels manchmal die Fähigkeit des sanktionierenden Landes, Krieg zu führen, sogar untergraben. Und die Regierungen haben die Vergangenheit nicht vergessen und wissen darum, dass Sanktionen und restriktive Wirtschaftspolitik auch neutrale Regierungen vom eigenen Handeln entfremden können – oder nicht kriegführenden Nationen eine Möglichkeit bieten, aufgegebene Handelsvolumen selbst zu nutzen, die sie dann nach Kriegsende intensivieren können.
Aus strategischen Gründen lieferten die Amerikaner während des Krieges von 1812 Rindfleisch an die Armee des Herzogs von Wellington in Spanien, weil sie befürchteten, dass London andernfalls Truppen von der Iberischen Halbinsel abziehen müsste. Damit würde man riskieren, dass sie nach Nordamerika entsendet werden, um die Rotröcke Ihrer Majestät im Kampf gegen die ehemaligen Kolonien zu verstärken.
„Wenn wir die britischen Armeen wegen des Aushungerns dazu verleiten, dass sie von der Halbinsel abgezogen werden, dann würden wir sie hierher bekommen“, bemerkte der damalige US-Präsident Thomas Jefferson. „Ich denke, wir sollten sie besser dort gegen Bezahlung füttern, als hier umsonst gegen sie zu kämpfen“, entgegnete Jefferson den raunenden Zuhörern.
Syrien wurde in jüngerer Zeit von geheimem Handel zwischen praktisch allen Akteuren geradezu geprägt. Vom Regime von Baschar al-Assad kauften westlich-unterstützte Rebellen und internationale Hilfsorganisationen Öl von der Terrororganisation Islamischer Staat, um einerseits ihre eigenen Konten aufzufüllen und auf der anderen Seite ihrer Aufgabe in Syrien selbst nachgehen zu können. Sie hatten offenbar keine große Wahl, den langanhaltenden Konflikt anderweitig zu finanzieren. Das bedeutet, dass westliche Regierungen den Islamischen Staat sowie das syrische Regime indirekt finanzierten und sie gleichzeitig bombardierten.
Kann man nun eine Lehre aus dieser langen Geschichte des Handels mit dem Feind ziehen? Im März dieses Jahres sagte der EU-Außenbeauftragter, Josep Borrell: „Dennoch sind Sanktionen allein noch keine Politik. Aber das Verhalten kann durch Sanktionen verändert werden.“ Bisher haben aber westliche Sanktionen Putin nicht daran gehindert, den Krieg gegen die Ukraine fortzusetzen.