Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat gestern zum zweiten Male binnen weniger Tage davon gesprochen, dass die Hamas keine Terrororganisation, sondern eine Freiheits- oder Widerstandsbewegung sei.
Ich halte dies sowohl in der Sache für falsch, als auch strategisch für unklug und rätsele noch immer darüber, was er mit dieser völlig unnötigen und in der jetzigen Situation durch nichts motivierten Einordnung bezweckt.
Ich verstehe, dass das Verhältnis zur Hamas für die türkische Nahost-Strategie ein Minenfeld ist. Das hat sehr viel damit zu tun, wer wir sind und wie wir uns begegnen - mit dem "wir" meine ich die Menschen im Nahen Osten.
Arabischer und türkischer Nationalismus haben als konstituierendes Element den jeweils Anderen als Antagonisten und Feindbild.
Erdogan versucht den staatstragenden türkischen Nationalismus dahingehend zu verändern, als dass der Islam als einigendes Element im Verhältnis zur arabischen Welt stärker akzentuiert wird. Der arabische Nationalismus hingegen ist nicht minder säkular und areligiös, wie der laizistische türkische Nationalismus.
Deswegen braucht Erdogan für diese Strategie andere Anknüpfungspunkte.
Jene Bewegung, die sich in der arabischen Welt noch am ehesten versöhnlich gegenüber der gemeinsamen osmanischen Geschichte zeigt, ist die Muslimbruderschaft. Sie ist zudem transnational und war während des "Arabischen Frühlings" gleichsam die stärkste und tragende ideelle Bewegung.
Sie schien also als Partner fast schon prädestiniert für die Strategen der AKP, um eine grundlegende Neujustierung der türkischen Außenpolitik im Nahen Osten in Angriff zu nehmen.
Eine Neujustierung, die ich damals wie heute für richtig halte. Ich halte die konsequente Abkehr der Türkei von der arabischen Welt nach dem Untergang des Osmanischen Reiches für eine aus dem damaligen Zeitgeist heraus verständliche, aber in der Retrospektive sowohl für uns, als auch für die gesamte Region fatale Fehlentwicklung. An unserem heutigen 100. Geburtstag sind auch die einen der anderen Gedanken über einige unserer "Geburtsfehler" nicht verkehrt.
Doch zurück zum Thema: über die Bewegung der Muslimbruderschaft herrschen viele Mythen und Halbwahrheiten vor. Hauptsächlich deswegen, weil die Bewegung praktisch seit ihrer Entstehung zu einem Untergrunddasein verdammt war. Vieles von dem, was man meint, über sie zu wissen, entstammt den Erzählungen ihrer (herrschenden) Gegner. Also in der Hauptsache säkular-nationalistische Herrscher wie in Syrien oder Ägypten, korrupte absolutistische Monarchien wie in Saudi Arabien oder eben auch aus israelischen Quellen.
Das soll uns an dieser Stelle nicht weiter bekümmern. Wichtig ist an dieser Stelle anzumerken, dass die Bewegung dezidiert gewaltfrei ist und sich in all den Jahrzehnten von jeglicher Form von Terrorismus ferngehalten hat. Mit einer Ausnahme: der Hamas, die aus dem palästinensischen Zweig der MB hervorgegangen ist.
Zwar war auch der Hamas-Gründer Scheich Yassin anfänglich für gewaltfreien Widerstand, jedoch hat sich diese Position in der Besatzungsrealität der späten Achtziger, der stetigen Interaktion mit der Besatzungsmacht, dem Druck der PLO, nicht aufrechterhalten lassen. Mit der Zeit ist es der Hamas dann so ergangen, wie so vielen Widerstandsorganisationen und Befreiungsbewegungen: sie hat die bisweilen fließenden Grenzen zum Terrorismus überschritten.
Wenn Erdogan nun also davon spricht, dass die Hamas keine Terrororganisation sondern eine Freiheits- oder Widerstandsbewegung sei, so baut diese Einordnung auf einer falschen Dichotomie auf. Dass man einst das Eine war, schließt nicht aus, dass man heute das Andere ist. Und das kann niemand bestreiten. Wer zur Erfüllung seiner politischen oder weltanschaulichen Ziele gezielt Zivilisten und/ oder zivile Infrastruktur ins Visier nimmt, begeht Terrorismus. Das ist gewissermaßen das Wesen, die Definition von Terrorismus. Und diese Grenze hat die Hamas nicht erst am 07. Oktober überschritten.
Es gab vor allem in den Nuller Jahren einige einschneidende Ereignisse und Entwicklungen, anlässlich derer die Weichen nochmals hätten umgestellt werden können. Damals herrschte innerhalb der Hamas eine erste vorsichtige Öffnung gegenüber der Frage des israelischen Existenzrechts sowie durchaus die Möglichkeit, die Bewegung auf den Boden eines legitimen Widerstands zurückzuholen. Die Erdogan-Türkei hat damals sehr viel Aufwand für einen solchen Prozess betrieben. Das waren die Jahre 2006 bis Ende 2008. Doch war das damals nicht im Interesse der übrigen Akteure. Nicht der Fatah, nicht der Israelis und auch nicht der USA unter Bush.
Fatah sah die eigene Vormachtstellung gefährdet und Israels Staatsräson befindet sich in einem symbiotischen Verhältnis zum Hamas-Terror. Ob das damals schon so geplant war, weiß ich zwar nicht, aber rückblickend ist ein klarer roter Faden in Israels Strategie zu identifizieren. Gaza wurde nach dem kurzen "Bruderkrieg" zwischen Hamas und Fatah und der darauffolgenden Spaltung zu jener hermetisch abgeriegelten Petrischale, in der ein stetiges und kontrolliertes terroristisches Bedrohungsszenario kultiviert werden konnte, das den israelischen Regierungen seither als Vorwand dient(e), um im Schatten des so torpedierten Friedensprozesses durch eine systematische Siedlungspolitik im Westjordanland jegliche Chance auf eine Zwei-Staaten-Lösung dauerhaft zu verunmöglichen.
Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Israel in all dieser Zeit mit kurzen Unterbrechungen von Netanjahu regiert wurde und dieser eigentlich nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass er keine Zwei-Staaten-Lösung anstrebt, liegt die Vermutung nahe, dass wir es hier mit einer langfristigen Strategie zu tun hatten.
Es mag also verständlich sein, warum das Verhältnis der Erdogan-Türkei zur Hamas unter grundsätzlichen strategischen Aspekten unserer Außenpolitik ambivalent ist.
Umso mehr, da der auf der PLO-Tradition basierende Teil des palästinensischen Widerstandes von jeher eine grundsätzlich antitürkische Haltung pflegt. PKK´ler wurden lange Zeit in den Camps der PLO ausgebildet, in fast allen für die Türkei neuralgischen Fragen steht und stand die PLO mit ihrer antitürkischen Verwurzelung im säkularen arabischen Nationalismus auf der Seite der Gegner und Antagonisten der Türkei.
Will die Türkei in der Nahost-Frage mitreden, ist das geistige Klima, in dem die Hamas beheimatet ist, also praktisch alternativlos.
Dass die Türkei hier mitreden sollte, ist übrigens in jedermanns Interesse, der den iranischen Expansionismus in der Region mit Sorge betrachtet. Dass eine schiitische Macht sich zum Schutzpatron einer Bewegung erklären kann, die ihre Wurzeln in einer so konservativ-sunnitischen Bewegung wie der Muslimbruderschaft hat, ist an sich schon absurd und zeigt, wie verquer sich die Verhältnisse in diesem Konflikt in all den Jahrzehnten verwachsen haben.
Die Türkei hat also durchaus etliche gute und rationale Gründe, um die Hamas - oder zumindest ihr gesellschaftspolitisches Umfeld und Klima - nicht fallen zu lassen.
Aber es ist nicht verständlich, warum Erdogan sich in der aktuellen Situation überhaupt dazu eingelassen hat, eine Debatte um die Natur von Hamas loszutreten. Niemand hat ihn mit dieser Frage konfrontiert, er war nicht in einer Situation, in der er sich erklären musste. Im Gegenteil. Die Türkei hat über zwei Wochen hinweg eine sehr kluge und umsichtige Politik in dieser Krise verfolgt. Selbst seine schärfsten Kritiker haben dies anerkannt.
Und auch, dass er angesichts der zunehmenden Brutalität des israelischen Vorgehens den Ton gegenüber den Netanjahu-Schergen deutlich verschärft hat, war vollkommen in Ordnung. Nichts davon wird nach diesem Hamas-Vorstoß übrig bleiben. Erdogan hat sich ohne Not angreifbar gemacht und seine Glaubwürdigkeit als möglicher Vermittler verspielt.