Eine Vertiefung der Zollunion mit der Türkei fordern immer mehr Industrie- und Handelskammern sowie Verbände in der Europäischen Union, nach dem ein Vorstoß der EU im Jahre 2021 schon wieder zum Erliegen kam. Aber die Zeit ist nun reif, erklärt unter anderem Livio Manzini, Präsident der italienischen CCIE.
Zollunion stockt
Damals, im Jahre 2021, forderten Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel den Ministerrat auf, mit der Arbeit an einem Verhandlungsmandat für die EU-Kommission zu beginnen. Offensichtlich hatten Industrie- und Handelskammern und Verbände Druck auf die europäischen Regierungen ausgeübt, um die bürokratisch langwierigen Bearbeitungszeiten der Zollanträge, langsamen Grenzübergangsprozeduren und staatlichen Export-Absicherungen auf ein erträgliches Maß zu kürzen. Vor allem die anhaltende Pandemie hat diesen Druck noch einmal erhöht. Jetzt kommt noch der Ukraine-Krieg ins Spiel, der die globale Logistik vollkommen auf den Kopf gestellt hat.
Türkei: Transport-, Energie- und Logistik-Hub
So langsam kristallisiert sich auch heraus, dass die Türkei zu einem Transporthub entwickelt, weil unter anderem die neue China-Europa-Verbindung via Türkei um zehn Tage verkürzt wird als der Mittelkorridor über das Schwarze Meer. Dazu hatten Anfang Juli dieses Jahres die Transportminister der Türkei, Bulgariens, Serbiens und Ungarns den „Quadrilateral Coordination Council“ gegründet, bei der die Entwicklung und Ausbau der Eisenbahninfrastruktur im Vordergrund steht.
Logistik-Unternehmen wittern Chance zum Wandel
Den Braten haben Logistikdienstleister in Europa ebenfalls gerochen und investieren jetzt vermehrt in die Türkei, um nicht den Anschluss an die Neue Seidenstraße zu verlieren. Den Anfang machten die Gebrüder Weiss. Der österreichische Logistikdienstleister eröffnete bereits im März einen neuen Stützpunkt mit vier Mitarbeitern im Mittelmeerhafen Mersin im Südosten der Türkei. Die Schweizer Gruppe InterRail gründete jüngst eine türkische Gesellschaft in Istanbul, um am Bahnverkehr zwischen China und Europa nicht den Anschluss zu verlieren.
Auch die europäische Bahngesellschaft Metrans, ein Tochterunternehmen der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA), bietet seit September neue Bahnverbindungen zwischen dem Ostseeraum, Zentraleuropa und der Türkei an. Den Fuß bekam Metrans in Kooperation mit dem türkischen Logistikdienstleister Omsan Logistics (Tochtergesellschaft der OYAK-Gruppe) in die Angel, um rechtzeitig auf den abfahrenden Zug aufzuspringen.
Längst hatten da türkische Start-up-Unternehmen wie Yolda das Potenzial der Neuen Seidenstraße erkannt, bei der sie vom Staat unterstützt wurden. Yolda will mit ihrer selbst entwickelten digitalen Spedition auch in Europa punkten und hat bereits 2020 im deutschen Markt erstmals in Köln Fuß gefasst, um im Stückgut- und Teilladungssektor eine Vorreiterrolle einzunehmen.
Standort Türkei
Allen ist nicht nur die unbürokratische Investitionsmöglichkeit in der Türkei im Gedächtnis geblieben, weshalb immer mehr Logistikunternehmen die Türkei als rasant anwachsenden Wachstumsmarkt betrachten. Es geht auch um den CO₂-Fußabdruck, der dabei hinterlassen wird, um Frachtgut von A nach B zu transportieren. Mit diesen Investitionen wird auch das produzierende Gewerbe angelockt, die von den optimalen Bedingungen ebenfalls profitieren wollen.
Trotz politischer Krisen, der Markt wächst rasant
Das kann man auch an Zahlen festhalten: Trotz der Krise in den deutsch-türkischen Beziehungen hatte die Bundesregierung 2017 deutlich mehr Exporte in die Türkei finanziell abgesichert als im Vorjahr. Der Umfang der sogenannten Hermesbürgschaften wuchs 2017 im Vergleich zu 2016 um knapp ein Drittel auf 1,458 Milliarden Euro. Die Bundesregierung, die aufgrund der türkischen Militäroperationen in Nordsyrien eine härtere Gangart einlegte, deckelte daraufhin 2018 die Bürgschaften, die bei 1,5 Milliarden Euro lag.
Dann, im Juni 2018, zwei Tage nach der Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan beschlossen die EU-Staaten offiziell, mit der Türkei vorerst keine Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion aufzunehmen. Dennoch stiegen 2019 während des Corona-Jahres die Absicherungen des Bundes wieder auf über 2,49 Milliarden Euro an und 2021 betrug das Volumen schon stolze 8,3 Milliarden Euro.
Druck lastet auch europäischen Unternehmen stark
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Türkei sich für viele europäischen Unternehmer und Konzerne zu einem lukrativen Standort entwickelt hat, die politische Querelen nur bedingt berücksichtigt. Europäische Unternehmen, die in der Türkei bereits tätig sind, fordern immer offener, dass die Zollunion zwischen der Europäischen Union und der Türkei dringend aktualisiert wird. Der Präsident der italienischen Industrie- und Handelskammer, Livio Manzini, erklärte während eines Forums in Istanbul, dass die Türkei ein verlässlicher Partner sei: „Wenn Sie die Beziehungen zu China abbrechen wollen, gibt es kein anderes Land mehr als die Türkei.“
Auch der Präsident der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer, Markus Christian Slevogt, erklärte im Rahmen des Programms: „Alle, die von der Zukunft Europas profitieren, sollten sich die Türkei genauer ansehen und in dieses Land investieren.“ Slevogt wies dabei auf die Notwendigkeit einer Schaffung von Rahmenbedingungen für Investitionen hin und fügte hinzu, dass die Türkei mit der Aktualisierung der Zollunion einen großen wirtschaftlichen Beitrag für Europa leisten könnte.
Manzini erklärte indessen, dass die Türkei sich in einer idealen geografischen Position befinde, um es ausländischen Produzenten zu ermöglichen, Märkte in Afrika, dem Nahen Osten und Zentralasien zu erreichen. Die Türkei nehme dabei eine aktive und wichtige Rolle ein. Es verfüge über eine gute Infrastruktur, wobei man nur an die Vernetzung der Turkish Airline Cargo denken müsse. Außerdem habe das Land einen leistungsfähigen Telekommunikations- und Bankensektor. Die türkische Wirtschaft sei derzeit bereits sehr diversifiziert und biete daher in allen Branchen gute Chancen, auch in der technologisch fortgeschrittenen Verteidigungsindustrie. Das bevölkerungsreiche (82 Millionen Einwohner) und junge Land, in dem die Mittel- und Oberschicht ständig wachse, bedeute auch für Europa einen wichtigen und anspruchsvollen Absatzmarkt.