Was steckt hinter der Drohung von Erdoğan gegenüber Griechenland, eines Nachts kommen zu wollen? Das fragt unter anderem Oliver Mayer-Rüth aus dem ARD-Studio Istanbul. Was bringt ihn also so in Rage, wie Mayer-Rüth es formuliert?
Bir gece ansızın gelebiliriz!
Das ist der besagte Satz in türkischer Sprache und bedeutet übersetzt: „Eines Nachts können wir kommen.“ Dazu muss man den jahrzehntelang schwelenden Konflikt zwischen dem zypriotischen „Mutterland“ Griechenland sowie der Türkei heranziehen, um zu verstehen, weshalb der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf diesen Satz zurückgegriffen hat.
Der Staatsstreich in Zypern
Mit einem Putsch gegen die zyprische Regierung von Präsident Makarios am 15. Juli 1974, die die griechische Junta angestoßen hatte, begann die zypriotische Tragödie, die nur fünf Tage später mit der türkischen Intervention endete. Der Putschversuch war kein Blitzschlag, sondern von langer Hand geplant.
Informationen und Gerüchte über einen möglichen Putsch in Zypern waren seit einiger Zeit im Umlauf, insbesondere nach dem Attentatsversuch auf Erzbischof Makarios III. im Jahr 1970. Die Vorbereitungen hinter den Kulissen zum neuerlichen Putschversuch liefen mehrere Wochen vor dem 15. Juli 1974 an.
Zu Beginn des Schwarzen Juli 1974 erreichten die Spannungen zwischen der griechischen Junta und Makarios ihren Höhepunkt, wobei hauptsächlich die türkische Minderheit immer weiteren Gräueltaten zum Opfer fiel.
Währenddessen warnte die türkische Regierung als einer der drei Garantiemächte die griechische Junta, in Zypern die Kontrolle zu übernehmen. Hierzu reiste der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit nach fruchtlosen Verlauf auch nach London, um die britische Regierung als weitere Garantiemacht dazu zu bewegen, die griechischen Bestrebungen zu stoppen.
Junta spielt türkische Musik
Die griechische Junta spielte derweil über das zyprische Staatsradio CRF eine Musik des türkischen Dichters, Komponisten und Sängers der türkischen klassischen und zeitgenössischen Musik Yesârî Asım Arsoy, den der griechische Sänger Stelios Kazantzidis mit griechischem Akzent bereits im Jahre 1960 wiedergegeben hatte; ein zynischer Wink in Richtung Türkei und den zyprischen Türken:
Bekledim de gelmedin
„Bekledim de gelmedin“ bedeutet auf Deutsch sinngemäß: „Habe gewartet, bist nicht gekommen.“ Das heißt, die griechische Junta spielte mit Beginn des Putsches von morgens bis abends diese Musik ab, um vor allem den mittlerweile erstarkten türkisch-zypriotischen Widerstand auf der Insel zu demoralisieren, in dem sie zum Ausdruck bringen wollte, dass die türkische Regierung nicht zu Hilfe eilen werde.
Eine Anmerkung nebenbei: Gerade jetzt ist ein Video des russischen Erdgasförderunternehmens Gazprom im Umlauf, der dieselbe zynische Propaganda über einen bevorstehenden harten und langen Winter über Europa, mit einem Lied von Jurij I. Vizbor unterstreicht. Mehr dazu hier.
Im Gegenzug sendete der türkisch-zyprische Radiosender nur wenig später aus dem Nordosten des Landes die Message mit dem Lied: „Bu kadar yürekten çağırma beni. Bir gece ansızın gelebilirim.“ Das bedeutet auf Deutsch: „Ruf mich nicht so inbrünstig, eines Nachts könnte ich kommen.“
Die Erwiderung von Erdoğan, „eines Nachts können wir kommen“, hat also einen Bezug zum Zypernkonflikt selbst und vor allem zur Gegenwart, bei der eine türkische F-16 während eines NATO-Einsatzes von einem griechischen Bodenluftraketensystem S-300 anvisiert und angepeilt wurde.
Damals spielte die griechische Junta während den Pogromen an den Türken im zypriotischen Staatsradio provozierend das Lied „Habe gewartet, bist nicht gekommen“, weil die türkische Regierung damals mit Intervention drohte aber lange Zeit damit haderte, direkt einzugreifen.
Auf der anderen Seite, zwischen dem 15. Juli und 19. Juli 1974, sendeten die zypriotischen Türken über einen eigenen Radiosender das Lied: „Eines Nachts können wir unerwartet kommen“; in der Hoffnung, die Türkei werde einschreiten. Am 20. Juli 1974 landeten schließlich türkische Fallschirmjäger in der Operation „Attila“ auf Zypern.
Oliver Mayer-Rüth sieht innenpolitisch Druck als Grund
Laut Mayer-Rüth stehe Erdoğan unter innerpolitischem Druck. Die Umfragewerte der amtierenden Regierungskoalition AKP / MHP würden von Monat zu Monat fallen, weshalb Erdoğan von den innerpolitischen Krisen ablenke.
Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist: Nach dem Abhörskandal steht der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis während des Wahlkampfs für das nächste Jahr, ebenfalls mit dem Rücken zur Wand. Und während einer NATO-Mission, bei der türkische F-16 als Geleitschutz für US-amerikanische B-52 unterwegs über griechischem Luftraum waren, wurden diese von S-300 Raketen anvisiert und angepeilt, die Griechenland gehören. Das heißt, ein NATO-Verbündeter nahm einen anderen NATO-Verbündeten während eines NATO-Einsatzmanövers ins Visier. Eigentlich musste die Besatzung des griechischen Feuerleitradars der S-300 nur noch den Knopf drücken.
Diese verbale Auseinandersetzung zwischen Griechenland und der Türkei ist eine Fortsetzung eines pausierten Konflikts, bei der die Europäische Gemeinschaft versagt hat. Ankara richtet diese verbale Attacke an sich auch nicht direkt gegen Athen, sondern in erster Linie gegen die „Schutzpatrone“ Athens. Das ist Washington und Brüssel. Für Ankara stellt Athen selbst keine Gefahr dar. Dafür ist das Land militärisch wie geopolitisch zu unbedeutend.