Talha Köse, Politikwissenschaftler an der SETA in Brüssel, meint, dass der NATO-Beitritt Schwedens für die Türkei keine Pflichtübung ist.
Gegenüber dem Online-Nachrichtendienst Sweden Postsen erklärte der Leiter des Büros der türkischen Denkfabrik SETA, Talha Köse, dass die schwedische Regierung die Gelegenheit am Schopfe packen müsse, um sich mit dem NATO-Verteidigungsbündnis zu identifizieren.
Einer der Grundlagen der NATO sei es laut Köse, den Konsens über Bedrohungen klar zu werden. Während des Kalten Krieges gab es diesen Konsens, die Sowjetunion und den Kommunismus als eine Bedrohung aufzufassen. Nach dem 11. September und dem Arabischen Frühling habe sich die allgemeine Sicht auf die Bedrohung geändert, was zum Beispiel eine terroristische Organisation ist.
Taha zufolge müssten die Verbündeten der NATO sich wieder einer Grundauffassung verpflichten, was gemeinsame Bedrohungen sind und wie man sie bekämpft. In der Türkei sei die Bedrohung klar definiert und in der Gesellschaft wie auch Medienlandschaft eindeutig.
Schweden und Finnland, vor allem aber Schweden, nehme die Wahrnehmung der Türkei für ihre innere und äußere Sicherheit aber nicht ernst. Taha erklärte in dem Interview gegenüber Sweden Postens, dass mehrere gut informierte Türken ihn gefragt hätten, wie Schweden der PKK erlauben könne, in Schweden zu operieren oder wie Abgeordnete PKK-Flaggen schwenken könnten. Taha zufolge sei das mit türkischen Abgeordneten gleichzusetzen, die Al-Qaida- oder IS-Flaggen schwenken.
In der Türkei habe sich über Schweden ein Bild gefestigt, als ob die als Terrororganisation bezeichnete PKK in diesen Ländern völlig frei operieren könnte. Im Gegensatz zu Finnland habe sich Schweden aber zu einer Drehscheibe der PKK entwickelt. In den letzten 40 Jahren habe sich die Terrororganisation in Schweden etabliert, solide Netzwerke geknüpft, in der Politik Fuß gefasst, was die Lage verkompliziere.
Aber für Schweden biete sich die Gelegenheit, dieses Bild zu zerstören, die sie bislang abgegeben habe. Vor allem das Desinteresse der schwedischen Behörden über die Aktivitäten der PKK, müsse sich ändern, um dieses Bild zu zerstören, so Talha Köse.
Ein Argument, das er während seiner Jahre in der Türkei oft gehört habe, sei, dass die Außenwelt kein Interesse oder Solidarität gegenüber der Türkei zeige, die unter den anhaltenden Bedrohungen leide. Mitglieder der sogenannten Gülen-Bewegung, die des Putschversuchs von 2016 beschuldigt werden, seien in Europa und in den Vereinigten Staaten aufgenommen worden.
Die kurdisch-völkische PKK, die seit 40 Jahren der schlimmste Feind des türkischen Staates sei, werde von außen zwar als Terrororganisation gebrandmarkt, doch die Türkei sehe sich nach wie vor gezwungen, die Bedrohung allein ohne Unterstützung von außen zu bekämpfen. Hier herrsche große Enttäuschung darüber, dass westliche Länder die Türkei nicht als gleichberechtigten Verbündeten ansehen.
Barçın Yinanç, eine unabhängige Journalistin, die 30 Jahre lang über die internationalen Beziehungen und Diplomatie der Türkei berichtet, ist auch nicht im Geringsten überrascht, dass die Türkei jetzt die NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands bremst.
Barçın Yinanç: „Ich war wirklich nicht überrascht, als ich hörte, dass Schweden und Finnland die NATO-Mitgliedschaft beantragen, und ich erwartete geradezu, dass die Türkei das Thema ansprechen würde. Das einzige, was mich überrascht hat, ist, dass die türkische Regierung so lange brauchte, um zu reagieren."
Das hat im Grunde die NATO zu verantworten, dass das von Präsident Recep Tayyip Erdoğan aufgegriffen wird, sich als eine Person zu zeigen, die sich als harter Verhandlungsführer gegenüber den westlichen Mächten behauptet. Es sei laut Yinanç auch der Sensibilität der türkischen Gesellschaft über das Terrorproblem der PKK geschuldet, da es sich um ein sensibles und aufwühlendes Thema handelt.
Die NATO ist der türkischen Öffentlichkeit jedenfalls nicht so wichtig wie das PKK-Thema. Wenn die Türkei Schweden also grünes Licht geben würde, ohne die Aktivitäten der PKK in Schweden hervorzuheben, würde die Regierung scharfe Kritik ernten, nicht zuletzt von der türkischen Opposition, so Köse weiter.
Innerhalb der türkischen Gesellschaft gibt es ein natürliches Misstrauen gegenüber Europa. Zum Teil, weil viele Türkei-Kritiker mit offenen Armen empfangen werden, zum Teil, weil Schweden als eines der Länder bekannt ist, das Oppositionelle und Dissidenten gastfreundlicher aufnimmt und schützt, und es sind nicht nur friedliche Dissidenten dabei.
Dies sind gängige Ansichten in der Türkei und es erklärt das derzeitige Vorgehen des Landes in der NATO-Beitrittsfrage Schwedens. Barçın Yinanç erklärt, dass dies keine Erfindung von Erdoğan sei, obwohl es ihm vielleicht nützen könnte. Denn wenn er Schweden und Finnland nicht den Finger in diese Wunde gelegt hätte, wäre er von der Opposition und auch der Öffentlichkeit scharf kritisiert worden.
Erst im Oktober wird das türkische Nationalparlament wieder zusammenkommen. Vorher wird es keine Abstimmung über den Beitritt Schwedens und Finnlands in die NATO geben – aber wenn es heute eine Abstimmung im Parlament gege, deuten die meisten Anzeichen darauf hin, dass es ein Nein zu einer schwedischen und finnischen Mitgliedschaft geben wird.
Bisher habe Talha Köse jedenfalls keine Veränderungen in Schweden beobachten können, dass dieses Nein aufhebeln könnte. Es sei Schweden überlassen, wie die Türkei darüber abstimmt. Im Juni räumten die NATO-Kandidaten zwar ein, in Schweden und Finnland gebe es dahingehend Probleme, aber jetzt müssten beide Länder auch liefern und die getroffenen Punkte in der Vereinbarung mit der Türkei umsetzen.
Was nun vor vier Monaten noch wie ein einfacher Aufnahmeritus in die schützende Gemeinschaft des Verteidigungsbündnisses aussah, hat sich zu einem Spießrutenlauf entwickelt. Und obwohl die Haltung in Schweden über den Beitritt noch immer positiv ist, ist er in der Türkei eher gedämpft. Es besteht jedenfalls keine Verpflichtung für die Türkei, Schweden in die NATO aufzunehmen, wenn es seine Versprechen nicht erfüllt und ernsthaft gegen das kämpft, was die Türkei als Terrorismus auffasst.